077 - Das Kollektiv
Aruula nicht ungestraft davon kommen - jetzt erst recht nicht, nachdem sie ausgerechnet mit Dushkiin geflohen war!
Wiko'o schnaubte missmutig. Auf seinem Weg durch das Dorf hatten sich ihm grimmig dreinblickende Männer angeschlossen, die offenbar genauso empfanden wie er, und jedes Mal, wenn der Junge sich auf die Stimme in seinem Kopf konzentrierte, waren es mehr geworden. Sie alle hörten Dushkiins Gedanken; seine verzweifelten Versuche, sich zu befreien und den mehrfach ausgesprochenen Wunsch zu töten.
Nur was Aruula sagte, das hörten sie nicht. Die telepathischen Impulse der Barbarin lagen auf einer anderen Wellenlänge; ähnlich genug, um ihr direktes Gegenüber zu erreichen, aber zu wenig kompatibel, um Aruula Teil des Kollektivs werden zu lassen - von dem sie nicht einmal wusste, dass es bestand.
Dushkiin hätte es ihr sagen können; er empfing die Signale seiner Artgenossen und spürte ihren wachsenden Unmut. Doch die Information ließ sich nicht mehr weitergeben; aus Sorge um das Wohlbefinden des jungen Mannes hatte Aruula den Kontakt beendet. Die heimlichen Lauscher am Strand - und ihr Aufschrei, als die Verbindung abriss - blieben unentdeckt. Vorerst.
»Seine Stimme ist weg!«, rief Le'ev ärgerlich und stemmte alle Fäuste in die Seiten. Dann wandte er sich an Wiko'o. »Was denkst du: Hat sie Dushkiin getötet?«
Der Junge stieß ein böses Lachen aus. »Während er darüber nachdenkt, ob sie noch Kraft genug zum Rudern hat? Wohl kaum! Ich sage dir, Le'ev, die Beiden wollen sich davonmachen! Und wer weiß - vielleicht hatten sie das von Anfang an geplant.«
»Nie im Leben!«, mischte sich Tjomkiin ein. »Aus welchem Grund sollte sich Dushkiin mit Aruula verbrüdern?«
Wortlos hob Wiko'o zwei seiner Hände vor die Brust. Mit unbeweglicher Miene schwenkte er sie herum.
Als hielte er ein paar Riesenmelonen.
»Das kann ich nicht glauben!«
Tjomkiin blieb skeptisch. »Gut, sie hat uns irgendwie bezaubert, aber…«
»Bezaubert? Verhext hat sie euch! Jawohl, das hat sie!«, schrillte Li'issas Stimme den Strand entlang. Aufgebracht kam die alte Heilerin heran, die Fischersfrauen im Gefolge.
»Aber es gab Tote!«, rief Tjomkiin händeringend. »Dushkiin würde doch keinen von uns töten! Warum sollte er das tun?«
»Vielleicht war er neidisch auf euren Erfolg im Kampf gegen Fjorr?«, schlug Wiko'o vor, sanft und engelsgleich. Der Junge hatte die Schmach seiner Zurückweisung noch immer nicht verwunden und wollte Aruula bluten sehen.
Um jeden Preis. Unerwartet fanden sich Verbündete.
»Sie ist eine Hexe!«, keifte die Heilerin.
»Das ist sie bestimmt! Sie hat mich dazu gebracht, Tosha'a ohne Grund zu strafen!«, rief Kaajin.
»Mein armer Mann hat sich ihretwegen geprügelt!«, jammerte die Witwe Pa'arov.
»Und die Kinder! Wisst ihr noch, wie die Kinder sogar mit Waffen auf uns losgehen wollten?«, tönte es aus der Menge.
Stirnrunzelnd beugte sich Kaajin ihrer Nachbarin zu. » Uns? «, raunte sie.
Die Frau winkte ab. » Sie oder uns was macht das schon?«, zischte sie zurück, während ringsum laute Diskussionen entbrannten.
Plötzlich, so schien es, hatten alle im Dorf auf die eine oder andere Weise durch Aruula Schaden genommen. Jeder wusste etwas beizusteuern: einen Streit, ein Missgeschick - ja selbst Ushaars verlorenes Fischmesser war keineswegs von ungefähr zum Ärgernis geworden. O nein, alles hatte seinen Grund, alles einen Schuldigen - und nun musste eine Lösung her.
Kaajin stieß sie an. »Die Fremde hat dem ganzen Dorf geschadet!«
»Aruula ist eine Hexe!«, rief die Heilerin.
»Wir sollten sie nicht entkommen lassen!«
»Eine Hexe ist sie!«, rief die Heilerin.
»Denkt an den armen Pa'arov!«
»Eine-Hexe! Jawohl!«
»Und die Kinder! Denkt an die Kinder!«
»Ich mache das Boot klar«, sagte Wiko'o leise zu Tjomkiin, als Neid und Eifersucht ihr Werk vollendet hatten und jener gefährliche Einklang um sich griff, der Zweiflern die Stimme nimmt und eine Meute formiert, deren lustgesteuerte Zerstörungswut schon größere Lawinen losgetreten hatte als die Jagd auf eine Kriegerin vom Volk der Dreizehn Inseln.
»Aruula muss sterben!«, sagte die Heilerin - und es war niemand mehr da, der widersprechen wollte.
***
»Hier lang!« Jem'shiin gähnte laut und ungeniert, während er zügig und mit einem Knotenstock bewaffnet vor den Freunden her schritt. Es war eine Stunde vor Tagesanbruch. Noch lag das Schweigen der Nacht über der dunklen Küstenlandschaft; kein Vogel sang,
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