077 - Die Hexe von Andorra
genau vor zwanzig Jahren hatte man auf der Schwelle des Hauses einen Bastkorb gefunden, in dem ein wenige Wochen altes Mädchen lag. Sixta.
Man versuchte, ihre Eltern ausfindig zu machen, und als das nicht gelang, zog man Sixta wie das eigene Kind auf. In dem Bastkorb hatte nur ein Zettel gelegen, auf dem eine Name stand: Sixta. Deshalb hatte man sie auch so getauft.
Sixtas Gedanken wanderten weiter zurück, zu jenen Kindheitstagen, wo sie noch glücklich gewesen war, wo sie noch nicht einmal geahnt hatte, welcher Fluch auf ihr lastete.
Ja, ihre Veranlagung war mehr Fluch als Segen. Aber jetzt fühlte sie auch, daß sie eine Bestimmung hatte. Nicht umsonst hatte es sie nach Andorra, in das Gebiet von Castillo Basajaun gezogen.
Denke zurück, noch weiter zurück, an den ersten Schrei deines Lebens! Wo hast du ihn von dir gegeben?
Sixta sah einen dichten Wald, davor eine Straße. Es war die Straße nach Andorra-la-Vella. Sie kannte dieses Haus. Es war jenes, in dem Julio mit seinen Eltern wohnte. Jetzt ging die Tür auf. Eine Frau kam heraus. Aber es war nicht Julios Mutter, es war eine Fremde - und doch kam sie Sixta vertraut vor.
Die Bilder wollten verblassen. Nein! Sixta bot ihre ganzen Kräfte auf, und die Bilder erhellten sich wieder.
Sie näherte sich dem Haus und gelangte in sein Inneres. Die unbekannte Frau, die ihr dennoch so vertraut erschien, lag nun im Bett und wand sich unter Schmerzen. Alte, in Schwarz gehüllte Weiber waren bei ihr, murmelten unverständliche Worte, machten seltsame Zeichen. Im Nebenraum hatten sich die Männe versammelt.
Ein Schrei der Frau im Bett - und mit einem Aufbäumen entließ sie das Leben, das sie lange Zeit in sich getragen hatte, in die Welt. Sixta erkannte in dem Neugeborenen sich selbst.
Das Haus der Baroja war ihr Elternhaus. Das wußte sie nun genau.
Die Bilder hatten es ihr verraten.
Sixta war so erschöpft, daß sie sich dem Zauberspiegel entzog und in die Wirklichkeit zurückkehrte. Sie wußte nun, welchem Trieb sie gefolgt war, warum sie nach Andorra gekommen war. Das war ihre Heimat. Aber was war aus ihren Eltern geworden? Wie war sie nach Barcelona zu den fremden Leuten gekommen?
Sie ließ einige Zeit verstreichen, bis sie sich wieder erholt hatte. Draußen miaute Estrella kläglich. Sie wollte herein, aber Sixta befahl ihr, weiterhin Wache zu halten. Sie wollte noch einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die letzten Geheimnisse zu ergründen.
Diesmal dauerte es nicht so lange, bis die beiden Kerzenlichter miteinander in der Flasche verschmolzen.
Castillo Basajaun tauchte auf - mächtig, schwarz, drohend. Sixta fröstelte. Die fremde Frau, die ihre Mutter war, erschien. Sie hielt die acht Wochen alte Sixta in den Armen. Es war Winter wie jetzt, Draußen war es kalt. Alle drängten sich um den offenen Kamin. Kein Zauber half gegen diese Kälte, die von der Burg auf sie übergriff.
Die Kälte nahm Gestalt an, wurde zu vielen vermummten Wesen in Kapuzen, die mit flammenden Kreuzen in den Händen kamen und das Haus umstellten.
„Sie haben uns gefunden!"
Diese Worte geisterten durch die Stille. Alle wußten, was sie zu bedeuten hatten: Den Tod!
Die Vermummten waren gekommen, um sie zu töten. Es gab kein Entrinnen. Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten sie sich verstecken können, hinter einem falschen Namen und der Maske von normalen Menschen. Doch nun war die Wahrheit ans Licht gekommen.
Sie waren verloren. Alle. Sie waren anders als die anderen Menschen, besaßen Fähigkeiten, mit den sie Dinge tun konnten, die als Zauberei bezeichnet wurden. Aber diese magischen Kräfte waren nicht stark genug, um ihnen Schutz zu gewähren vor roher Gewalt.
Sie konnten nur eines tun: Sie vereinten ihre übernatürlichen Kräfte und mit dieser geballten magischen Kraft brachten sie das acht Wochen alte Mädchen in dem Bastkorb in Sicherheit. Sie legten Sixta sozusagen ihr geistiges Vermächtnis in die Wiege und wünschten sie intensiv an einen anderen„ weit entfernten Ort, wo sie in Sicherheit war.
Und der Bastkorb mit Sixta tauchte in Barcelona auf, vor der Schwelle des Hauses der fremden Familie, die sie bei sich aufnahm.
Als dies geschehen war, ließ sich Sixtas Familie von den Vermummten abführen. Sie wurden nach Basajaun gebracht, wo sie spurlos verschwanden.
Sixta hatte keine Vision darüber, was mit ihren Eltern und den anderen Mitgliedern ihrer Familie geschah. Das zeigte ihr der Zauberspiegel nicht. Aber sie hörte ihre qualvollen Todesschreie,
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