077 - Die Hexe von Andorra
Chronik von Castillo Basajaun nachlesen. Jeder Quintano hat genau über seine Methoden der Hexenbekämpfung Buch geführt. Nach meinem Tode wird man all die vielen Bände der Burgchronik wissenschaftlich erfassen können und ein eindrucksvolles Zeit- und Sittenbild über zwei Jahrhunderte bekommen."
Quintano deutete auf ein Regal, wo zwei Dutzende handspannendicke Wälzer mit schwarzen Lederrücken standen: die Tagebücher der vielen Quintanos, die über Castillo Basajaun geherrscht und nur für die Inquisition gelebt hatten.
Es hörte sich unwahrscheinlich an, was Quintano erzählte, aber Dorian zweifelte dennoch nicht, daß er die Wahrheit sprach.
„Das ist ja alles äußerst interessant, aber wann zeigen Sie uns endlich die Folterkammer?" wollte Daniel Clementis wissen. „Und wann hören wir das Jammern und Fluchen der unruhig wandernden Seelen der Gemarterten?"
„Sie kommen bestimmt noch auf ihre Rechnung", versprach Quintano. „Ich führe Sie jetzt in die Krypta, wo die Urnen der unzähligen Eingeäscherten stehen, die im Laufe von zwei Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen endeten. Und jede dieser Urnen erzählt eine Geschichte, die ihnen die Haare zu Berge stehen lassen wird."
Mit dem Verwalter an der Spitze und Jerez, der die Fackel trug, verließen die Franzosen die Bibliothek. Dorian blieb zurück. Als er allein war, holte er seine Taschenlampe hervor und leuchtete die Bücherregale ab. Bei den dicken Wälzern mit den schwarzen Lederrücken hielt er den Lichtstrahl an.
Die Tagebücher der Quintanos interessierten ihn im Augenblick mehr als alles andere.
Die Krypta lag zwei Geschosse unter der Erde. Quintano hatte nicht zuviel versprochen. Dort waren in Wandnischen genau vierhundertundneunundvierzig kupferne Urnen untergebracht. Jede war beschildert, enthielt Namen und einen kurzen Lebenslauf des Eingeäscherten war zu erkennen, daß sich nicht wenige Kinder darunter befanden.
Jean Cassell blieb vor einer Urnenreihe stehen und besah sich die Inschriften genauer. Er wurde blaß, als er las, was draufstand, und winkte einen seiner Freunde heran, die mit Quintano bereits weitergegangen waren.
„Sieh dir das an!" sagte Cassell. „Lies mal das Datum auf dieser Urne!"
Der Freund kam der Aufforderung nach.
„ Uriela", las er und blickte Cassell an. „Komischer Name, nicht wahr?"
„Das Datum meine ich", sagte Cassell ungeduldig.
„Geboren 1901 in Andorra-la-Vella , las der andere. „Verbrannt im Jahre des Herrn 1955 zu Basajaun, nachdem sie unter der Folter gestanden hatte, eine Hexe zu sein. Verrückt, total verrückt." „Mensch!" Cassell packte den anderen an der Schulter. „Begreifst du das nicht? Das Datum! Demnach liegt der Tag, an dem diese Frau verbrannt wurde, erst zwanzig Jahre zurück."
„Es werden jeden Tag Tote eingeäschert."
Aber Quintano hat behauptet, daß sich hier nur die Urnen derer befinden, die auf dem Scheiterhaufen endeten."
Der andere lachte. „Du glaubst doch nicht alles? Quintano ist total verrückt. Darüber sind wir uns alle einig. Wir werden noch viel Spaß mit ihm haben."
„Trotzdem ist er mir unheimlich", gestand Cassell. „Eben weil er nicht richtig im Kopf ist. Der kann imstande sein... Der Freund klopfte ihm lachend auf die Schulter und sagte: „Komm! Wir schließen uns den anderen an. Paul hat gesagt, daß er Quintano mal auf den Zahn fühlen möchte."
Sie schlossen zu den anderen auf. Jean Cassell gesellte sich zu Paul Duponte.
„Was hast du mit Quintano vor, Paul?" fragte er ihn.
„Na, das weißt du doch. Wir haben es besprochen."
„Laß lieber mich zuerst an ihn heran!" bat Cassell.
Paul Duponte hob die Schultern. „Meinetwegen!"
Cassell holte Quintano ein, der gerade verkündete: „Für heute reicht's. Ich glaube, Sie haben fürs erste genügend Diskussionsstoff."
„Und die Folterkammer bekommen wir nicht mehr zu sehen?" fragte Cassell enttäuscht.
„Wer weiß, vielleicht ist das gar nicht der richtige Ort für Sie", meinte Quintano versonnen. „Ich habe ein Prinzip, das lautet, daß nicht jedermann in die Folterkammer darf. Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen, dann weiß ich, ob Sie würdig sind, zu diesem Ort vorgelassen zu werden." Enttäuschtes Gemurmel erhob sich unter den Franzosen.
Quintano, ich möchte Sie allein, unter vier Augen sprechen." wandte sich Cassell vertraulich an den Verwalter.
„So?" sagte Quintano.
„Ja. Das heißt, nur wenn Ihr Angebot noch gilt, daß ich mich Ihnen anvertrauen
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