0770 - Die andere Seite der Hölle
leise. Zahlreiche Augenpaare richteten sich auf die Frau, die gelähmt war.
Jetzt nicht mehr?
Das war die quälende Frage, und als die Frau die Arme anhob, ihre Hände bewegte, sie zu Fäusten schloß, diese wieder öffnete, anfing zu weinen, da war es klar, was Elenor erreicht hatte.
Ein weiteres Wunder war geschehen.
Oder…?
»Bitte Edwin, hilf mir.«
Aber Edwin schüttelte den Kopf. »Nein, Dinah, nein, das werde ich nicht. Ich will sehen, wie du die Liege verläßt. Dann werde ich Sie zertrümmern. Ich hasse sie. Ich habe sie all die Jahre über gehaßt. Jetzt tu endlich, was man dir gesagt hat, verdammt!«
»Edwin, wie sprichst du…?«
»Tu es!«
Der Mann war wie von Sinnen. Auch er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Er stand auf der Stelle und war in den Knien eingesackt. Schweiß strömte über seine Wangen und vermischte sich mit den Tränen.
Dinah zog die Beine an.
Es klappte schon beim ersten Versuch. Alles sah noch sehr steif aus, aber was sie nun tat, davon hatte sie viele Jahre lang geträumt. Die Starre war gewichen.
Sie bewegte auch ihren Oberkörper.
Ein Ruck, sie saß!
Erstaunt schaute sie sich um, als würde sie erst jetzt die Menschen sehen, die sie umstanden. Wieder summten die Motoren der Kameras. Die Fotografen waren wie von Sinnen. Was die Journalisten hier erlebt hatten, das war kaum zu fassen. Selbst die abgebrühtesten Typen unter ihnen brachten kaum ein Wort hervor.
Dinah saß noch immer.
Sie schaute auf das Mädchen. Elenor hatte sich einige Schritte entfernt hingestellt. Sie lächelte, als sie den Arm ausstrecke und der Geheilten die Hand hinhielt. »Komm«, sagte sie.
Dinah staunte. Sie begriff noch nicht. »Bitte… was soll ich?«
»Zu mir kommen.«
»Aber meine Beine…«
»Werden dir gehorchen, gute Frau!«
Edwin griff ein. »Nun mach doch, Dinah. Schüttle alles ab. Weg damit, bitte!«
Seine Frau gehorchte. Auf der Liege hockend drehte sie sich und streckte die Beine aus. Dann schaffte sie es, sie auf den Boden zu stemmen.
Sie saß…
»Weiter, Dinah, weiter«, lockte das Mädchen. Es winkte mit seinen Fingern.
Die grauhaarige Frau mit dem kleinen Gesicht nickte. Sie packte die Decke an einer Seite und schleuderte sie zu Boden. Jeder sah ihre lange, graue, altmodische Trainingshose, doch niemand amüsierte sich darüber.
»Du kannst es!«
»Ja, du schaffst es!«
Edwin und Elenor wechselten sich gegenseitig ab, um der Frau Mut zu machen.
»Ich will es auch!« keuchte sie.
»Dann komm zu mir!«
»Jaaaa!« brüllte Dinah. Sie schleuderte ihren Kopf zurück, die Haare flogen, die Augen waren verdreht, und einen Moment später gab sie ihrem Körper den nötigen Schwung.
Fiel sie?
Nein! Dinah blieb auf den Beinen, die sie sogar bewegen konnte. Was spielte es da für eine Rolle, ob sie staksig ging? Wichtig war nur, daß sie den normalen Fußkontakt mit dem Boden nicht verlor.
Und das war und blieb auch so.
Sie schritt Elenor entgegen, die sie nach jedem Schritt lobte, selbst aber weiter zurückging, als wollte sie Dinah präsentieren.
Die machte weiter. Eigentlich sah sie lächerlich aus, doch es gab keinen der sie wegen ihrer unsicheren Bewegungen ausgelacht hätte. Sie stakste und schaukelte zugleich. Mal hielt sie den rechten, mal den linken Arm vorgestreckt, als wäre sie dabei, nach irgendwelchen Stangen zu tasten, an denen sie sich festhalten konnte. Doch sie griff immer wieder ins Leere, was nicht weiter schlimm war, denn ihr fehlte einfach der Schwung, um nach vorn zu kippen.
Statt dessen ging sie weiter.
Schritt für Schritt, bis Elenor ihr die Gnade erwies und einfach stehenblieb. »Jetzt bist du da!«
»Ja«, jubelte Dinah, »ich bin da.« Nach dem letzten Wort fiel sie nach vorn.
Elenor fing sie auf. Sie hielt die Frau, die gut und gern ihre Großmutter bäte sein können, in den Armen wie ein kleines Kind. Es störte sie auch nicht, daß Dinah weinte. Sollte sie nur, es würde ihr guttun.
Das Wunder war geschehen. Der Himmel hatte Gnade vor Recht ergehen lassen und sich mit der sechzehnjährigen Wunderheilerin verbündet. »Geh zu deinem Mann«, flüsterte Elenor ihr zu. »Geh hin, er braucht dich, meine Liebe.«
»Kann ich denn?« Dinah zweifelte noch immer.
Die Heilerin lächelte ihr zu. »Du kannst.«
»Gott segne dich, mein Kind!« flüsterte die Frau und sah nicht, wie sich das Gesicht des Mädchens für einen Moment zu einer haßerfüllten Grimasse verzerrte.
Die Geheilte hatte sich umgedreht und ging auf ihren Mann
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