0770 - Die andere Seite der Hölle
wollte, dann mit den Ellenbogen. Auch auf das Wort Polizei würde niemand hören, weil das Geschehen die Leute zu sehr fesselte.
Der äußere Ring war ebenfalls dicht, da die Menschen immer wieder nachrückten und sich, wenn sie konnten, auf die Zehenspitzen stellten. Es wurde wenig Rücksicht auf die Kranken genommen.
Hier überwog der Egoismus, auch bei mir, wobei ich allerdings den kranken Personen aus dem Weg ging.
Ich kam trotz aller Schwierigkeiten näher an das Zentrum heran. Auch wenn ich böse Blicke erntete und es Menschen gab, die meine Püffe erwiderten. Da halfen auch keine Entschuldigungen. Hin und wieder drehte ich jemand einfach zur Seite, um endlich freie Bahn zu haben.
Es klappte.
Zwar versperrten mir noch die Rücken zweier Journalisten den Weg, aber die Lücke zwischen ihren Köpfen reichte aus, um das Zentrum zu sehen. Dort befanden sich zwei Personen. Man hatte genügend Platz gelassen, damit Elenor nicht gestört wurde.
Sie war mit einem etwas jüngeren Mädchen beschäftigt, das Elvira hieß. Zumindest wurde es mit diesem Namen angesprochen. Ich erwischte einen Blick auf das Gesichtsprofil der Kleinen, die leise weinte, als sie auf Elenor zuging.
Die Haut zeigte ein schlimmes Muster aus Eiterpickeln und dicken, nässenden Geschwüren. Die Mutter der Kleinen hielt sich im Hintergrund. Sie drückte mit beiden Händen ein feuchtes Taschentuch zusammen, das für sie so etwas wie ein Rettungsanker sein mochte.
Jetzt hatte die Kleine ihr Ziel erreicht. Sie blieb stehen, schwankte etwas, und Elenor sprach leise mit ihr. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Elvira. Jetzt bin ich bei dir. Ich werde dir ein schönes, ein wunderschönes Gesicht geben, an dem du viel Freude habe wirst.«
Auch ich fühlte, wie die Spannung in mir hochstieg. So etwas hatte selbst ich noch nicht erlebt.
Wohl hatte ich von Wunderheilungen gelesen, sie aber oft als Scharlatanerie abgetan.
Hier auch?
Ich war unsicher geworden und schaute noch gebannter zu, denn Elenor hatte ihre Arme angehoben und beide Handflächen gegen die mit Geschwüren bedeckte Wange des Mädchens gedrückt.
Beide blieben stehen, ohne sich zu rühren. Das leise Flüstern in meiner Nähe schlief auch ein. Die Stille war beinahe greifbar geworden. War es die Ruhe vor dem Sturm?
Wolken zogen herbei. Die Sonne versteckte sich schamhaft hinter einer von ihnen, war aber kräftig genug, um hindurchschimmern zu können.
Elenor sprach.
Sehr leise redete sie, und ihre Worte waren nur für das Mädchen verständlich.
Es hielt die Augen geschlossen, konzentrierte sich voll und ganz auf die Hände ihres Gegenübers, die sich nun bewegten. Sanft streichelten sie die Wangen der Kleinen. Und dabei drangen flüsternde Sätze aus Elenors Mund.
Ich konzentrierte mich auf die Worte. Als Fachmann für alte und andere Sprachen konnte ich mich zwar nicht bezeichnen, aber ich kannte mich doch einigermaßen aus. In diesem Fall verstand ich nur wenig, aber was ich hörte, ließ doch auf ein altes Englisch schließen, das durchsetzt war mit lateinischen Begriffen.
Für mich kam diese Rede einer Beschwörung gleich. Aber wen wollte sie beschwören? Das hätte ich nicht unterschrieben. Eher die Nonne Franziska, von der uns der Feuerwehrmann berichtet hatte.
Diese hingerichtete Nonne mußte mit Elenor in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Das war im Moment nicht wichtig, denn es zählten andere Dinge. Ich wollte sehen, ob das sechszehnjährige Mädchen es tatsächlich schaffte, andere Menschen von ihrer schrecklichen Krankheit zu heilen.
Sie streichelte weiter.
Sehr sanft, schon lieb, als würde eine Mutter ihr Kind immer wieder liebkosen.
Leider drehte mir Elvira den Rücken zu. Elenor hatte ihre Patientin herumgedreht, damit sie sie anschauen konnte. Elvira stand ganz ruhig. Ihre Mutter dagegen atmete am lautesten. Sie schluckte hin und wieder. Ihre dünne Haut am Hals bewegte sich zuckend, bis zu dem Augenblick, als Elenor ihre Tätigkeit einstellte.
Die Hände aber ließ sie noch an den Wangen liegen. Dann stellte sie die erste Frage: »Wie fühlst du dich, Elvira?«
Keine Antwort, nur leises Weinen.
»Noch einmal frage ich dich. Wie fühlst du dich, Elvira?«
Das Kind öffnete den Mund, sagte immer noch nichts. Im Hintergrund stöhnte jemand. Einige Rosenkränze klimperten, als die Perlen zu heftig bewegt wurden.
»G… gut…«
Die Antwort, das Aufstöhnen der Zuschauer, das sich erleichtert anhörte.
Elenor Hopkins lächelte. »Das ist
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