0770 - Die andere Seite der Hölle
wunderbar, Elvira, das ist einmalig. Ich liebe es, wenn ich es…«
»Bitte, ich will zu meiner Mutter!«
»Das kannst du auch!« Elenor breitete die Arme aus. Die Hände verschwanden von den Wangen.
»Dreh dich um! Zeig dich ihnen!«
Elvira tat es.
Alle schauten sie an, auch ich.
Und jeder sah, daß die Gesichtshaut der jungen Patienten rein war wie Bergwasser…
***
Sekundenlang sprach sie nicht ein Wort. Auch ich mußte mir eingestehen, daß mich der Schock umklammert hielt. Das hätte ich in diesem Moment nicht für möglich gehalten.
Elvira stand inmitten des Blitzlichtgewitters. Sie fühlte sich unwohl, senkte ihren Kopf und führte gleichzeitig die zittrigen Hände auf beide Wangen zu. Sie sah aus, als hätte sie Angst, das Gesicht zu berühren. Ihre Mutter rief: »Tu es, Kind! Tu es!«
Sie tat es.
Elvira fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Wangen. Sie tastete die Stirn ab, und auch dort spürte sie nichts anderes als ihre reine, weiche Haut.
Ich wurde zur Seite weggestoßen. Inmitten des Trubels stand einsam und verloren die kleine Elvira, die nicht wußte, wie ihr geschah. Daß Elenor zuvor eine Gelähmte geheilt hatte, war vergessen, denn einem Kind brachten die Leser mehr Mitgefühl entgegen als einer alten Frau.
Und dann brandete der Jubel los.
Es war ein einziger Schrei aus zahlreichen Kehlen. Die Menschen, die sich bewegen konnten, tanzten auf der Stelle. Sie umarmten sich, sie liefen zur Mutter des Mädchens und beglückwünschten sie und führten sich auf, als wären sie selbst geheilt worden.
Nur ich blieb still.
Ich war zur Seite abgedrängt worden, blieb dort stehen, wo ich vom großen Chaos verschont blieb und war sehr nachdenklich geworden.
Elenor ließ sich feiern. Ich hätte gern mitgefeiert, doch in meinem Innern befand sich so etwas wie eine Sperre, die diese Gefühle nicht erlaubte. Ein tiefes Mißtrauen lastete dort, und es wurde nicht geringer, je mehr Zeit verstrich.
Wie hatte sie es geschafft?
Ich dachte an die Nonne, an die schwarze Madonna, und ich dachte auch daran, daß ich so rasch wie möglich einen Blick in die Kapelle werfen mußte. Doch zuvor wollte ich mir die Wunderheilerin vorknöpfen, um ihr einige Fragen zu stellen.
Noch kam ich nicht an sie heran. Sie wurde bestürmt wie ein Fels von der Brandung. Auf mich nahm niemand Rücksicht, obwohl mich einige Reporter kennen mußten.
Ich blieb in ihrer Nähe und hoffte, daß sie noch eine Heilung durchführen würde. Zwischendurch warf ich einen Blick zum offenen Fenster hoch. Jane Collins stand dort nicht mehr. Da ich Suko auch nicht sah, war ich beruhigt. Wahrscheinlich befand er sich mit ihr schon auf dem Weg und würde sicherlich bald zu mir stoßen.
Es dauerte Minuten, bis sich der Trubel gelegt hatte. Dann aber trat Stille ein.
Die Menschen, die Elenor umlagert hatten, zogen sich zurück, sie warteten auf weitere Sensationen, auf Heilungen, denn drei standen ihr gut zu Gesicht.
Die Menschen, die Hoffenden, die Kranken, sie flehten sie mit Tränen in den Augen an. Sie glaubten an sie und die großen Wunder von Glenfield.
»Ja!« hörte ich sie rufen. »Ich werde noch jemand heilen. Ich werde es euch noch einmal zeigen, denn ich spüre noch genügend Kraft in mir, um es zu versuchen.«
Jeder wollte natürlich geheilt werden, aber Elenor schüttelte den Kopf. »Ich werde sagen, zu wem ich komme. Bitte, ihr müßt mir Ruhe lassen. Faßt euch in Geduld.«
Sie gehorchten wie Roboter, traten zurück und ließen einen freien Platz, wo sich die Wunderheilerin aufhielt. Ich hatte gut aufgepaßt und befand mich praktisch in der ersten Reihe, wo ich auch bleiben und meinen Platz verteidigen wollte.
Elenor gab sich gelassen. Ihre Blicke schweiften über die Menschen. In aller Ruhe wartete sie ab, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten.
Die Mutter führte Elvira weg. Sie hielt die Tochter mit beiden Händen fest, als sie neben ihr herging und auf sie einsprach. Sehr dicht kamen sie an mir vorbei, und ich hörte, wie freudig geschockt das Kind noch war. Es konnte nicht begreifen, es gab keine Erklärungen, die zu ihre kindlichen Vorstellungsvermögen gepaßt hätten, doch sie brachte es auf einen Nenner: Sie sprach von einer Heiligen.
Ich schaute den beiden nach. Elvira hatte genau das Wort genannt, über das ich stolperte.
Eine Heilige war Elenor Hopkins für sie! Von den Menschen als lebende Heilige akzeptiert zu werden, das war so etwas wie die Erfüllung eines Traums. Sie verfügte über
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