0772 - Das Gericht der Toten
sie denken sollte, das wusste sie nicht. Eines aber stand für sie fest.
Das hier war nicht normal. Derartige Wesen gehörten weder in das Reich der Tiere, noch in das der Menschen. Sie waren eine Mischung aus beiden, und sie fragte sich, ob es dafür einen Begriff gab.
Ja, das war ein Monster!
Auf einmal kam ihr in den Sinn, was Manu gesagt hatte. Er hatte von den Leichen gesprochen, den uralten Wesen, den Zombies, von lebenden Toten also.
Dieser letzte Gedanke war schrecklich. Er jagte durch ihr Bewusstsein wie scharfe Säurespritzer. Sie hatte plötzlich eine irrsinnige Angst. Zwar kannte sie sich mit Zombies nicht aus, aber sagte man denen nicht nach, dass sie Menschenfleisch liebten?
Sie lief schneller. Es war Rose auch egal, ob die Füße Geräusche verursachten, sie wollte nur weg von dieser Bestie. Sich verstecken und den Sonnenaufgang abwarten.
Sie lief. Zuerst rückwärts, weil sie den Blick auf das fressende Etwas richten wollte. Es ließ sich nicht stören. Auch dann nicht, als unter den Tritten der jungen Frau das Wasser des Bachs in die Höhe spritzte. Erst jetzt lief sie schneller. Und sie drehte der Gestalt auch den Rücken zu. Sie rannte.
Es war nicht einfach, in den Stiefeln zu laufen. Hinzu kam der unebene, mit Geröll bedeckte Boden, eine einzige Stolperfalle. Oft genug stieß Rose mit den Stiefelspitzen gegen die Hindernisse. Die kleineren schleuderte sie zur Seite, die größeren aber blieben liegen.
Sie kämpfte sich vor.
Den Bach hatte sie hinter sich gelassen. Rose rannte zu der Bergwand und war auf der Suche nach einem Versteck.
Sie hörte sich atmen. Sie schwitzte. Später keuchte sie und rannte trotzdem weiter.
Ihr kam zugute, dass sie ein solides Leben führte und nicht rauchte. Ihre Kondition war gut. In der freien Zeit joggte sie des Öfteren.
Das zahlte sich jetzt aus, doch irgendwann war Schluss. Da ging dann nichts mehr. Ihre Beine wurden schwer, zudem führte der Weg jetzt bergauf.
Ein Schatten sprang vor ihr hoch. Nein, kein Mensch, auch kein Monster. Rose versuchte, diesem starren Gebilde auszuweichen, was ihr nur unvollständig gelang, denn mit der linken Schulter rammte sie gegen die Kante und schrammte daran entlang.
Die Fotografin verlor das Gleichgewicht und stürzte. Und dabei hatte sie das Gefühl, ihren eigenen Fall wie in einer Zeitlupenaufnahme zu erleben. Sie schwebte, der Untergrund drehte sich. Sie streckte beide Arme aus. Eine Idee zu spät.
Ziemlich hart schlug sie auf.
Sie hörte sich selbst schreien und spürte Schmerzen an den Handballen, als sie über den Boden rutschte.
Ein Schlag traf auch ihre rechte Kniescheibe, als hätte jemand mit einem Baseballschläger zugedroschen. Auch die Stirn prellte sie sich. Eine Platzwunde blieb an der Stelle zurück.
Dann lag sie still.
Sie hatte die Augen geschlossen. Vielleicht half ihr das, die Tränen der Wut und Erschöpfung zurückzuhalten.
Sogar ihre Lippen bluteten, und sie hatte sich auf die Zunge gebissen, doch das war alles nicht wichtig. Für sie zählte nur, dass sie noch am Leben war, wenn auch total erschöpft.
Rose Cargill schmeckte den Staub. Sie hörte die dumpfen und dröhnenden Geräusche, von denen sie umgeben war. Doch sie erreichten sie nicht von außen, sie fanden in ihrem Kopf statt, wo es hämmerte und klopfte.
Ein Zeichen der Erschöpfung, markante Merkmale eines irrsinnigen Stresses, dem sie verfallen war. Sie wusste nicht ein noch aus, sie war einfach völlig fertig und von der Rolle. Nichts ging mehr.
Wenn jetzt ein Feind kam, würde sie für ihn eine leichte Beute werden. Und wiederum dachte sie an die verfluchten Zombies. Warum wollten ihr die Erzählungen des jungen Manu nicht aus dem Sinn gehen? Dieses Reifen fressende Wesen war doch kein Zombie gewesen, das war eine Mutation, ein Tier wie der Yeti, den es ja angeblich nicht gab.
Aber wer konnte schon wissen, was sich in den einsamen Bergregionen über Jahrtausende hinweg gehalten hatte?
Allmählich sammelte Rose neue Kräfte. Sie konnte wieder klar und nüchtern denken. Sie konnte nicht an dieser Stelle bleiben, das war kein Versteck. Sie musste sich aufraffen, weglaufen und ein neues Versteck suchen.
Rose hatte wieder einigermaßen zu sich selbst gefunden, und nun merkte sie, was ihr alles wehtat. Das war das linke Knie, die Handballen, die Stirn. Verstaucht oder gar gebrochen hatte sie sich zum Glück nichts. Und die blauen Flecken kamen und gingen auch wieder.
Sie musste fliehen!
Taumelnd kam sie auf die Füße.
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