0777 - Phantom aus der Vergangenheit
spürte keinen Gegendruck, sie blieb stehen, es war wie ein Wunder, und gleichzeitig konnte sie in eine Tiefe schauen, die ihr unauslotbar erschien.
Die Umgebung der Scheune war zweitrangig geworden, für sie gab es nur die Insel und auch die gebogene Brücke, auf der ER stand.
Sie musste die Stufen hochgehen, um die Gestalt zu erreichen, und als sie dies tat, da fühlte sie sich leicht wie eine über dem Gestein schwebende Feder.
»Jetzt kommst du zu mir«, flüsterte er ihr entgegen, »und wirst dich an mir erfreuen. Denn du bist diejenige, die mir noch einmal den Schwung der Jugend geben wird. Ihr habt mich geholt, und ihr werdet mich dafür entschädigen.«
Doris wusste nicht, woher sie den Mut zu einer Frage nahm. Die Worte tropften über ihre Lippen. »Wer bist du?«
Die Frage hatte ihn überrascht. Er schüttelte den Kopf. »Weißt du das wirklich nicht?«
»Nein, wir haben nur gespürt, dass dieses Gebiet etwas Besonderes ist. Wir wollten…«
»In Frankreich bin ich Cyran de Village gewesen.«
Doris hörte die Erklärung, hielt sich aber ihrerseits zurück, deshalb sprach er weiter. »Und in England nenne ich mich Cyrus Wood. In Italien Cyrano, in Spanien kennt man mich unter dem Begriff Senor de Cyrangne. Du hörst, dass ich verschieden sein kann. Ich bin einmal der und einmal der andere. Ich kann wechseln, ich kann mich verstellen, und ich kann überleben.«
»Wie überleben?«
»Ganz einfach. Durch die Jugend der anderen. Ich hole sie mir, um das bisschen Ewigkeit zu erhalten…«
Über die letzte Bemerkung musste sie nachdenken. Das bisschen Ewigkeit – was hatte das nur zu bedeuten? Sie kam nicht darauf, es war einfach zu philosophisch gesprochen, da existierte eine Lücke in ihrem Gedächtnis oder Begriffsvermögen.
»Kennst du mich nicht?«
»Nein, ich…«
»Wusstest ihr nicht, dass ich ein Phantom bin? Das Phantom aus der Vergangenheit? Dass ich die Grenzen überwunden habe und dann, bevor ich zu alt werde, mir die Jugend zurückhole? Ich sauge sie aus den jungen Körpern, verstehst du? Es wird einen Austausch geben. Ich lege mein Alter ab und hole die Jugend zurück. Ihr habt mich beschworen, ich konnte die andere Zeit verlassen, in der ich mich aufhielt, aber ich musste mir die Jugend zurückholen. Das habe ich getan, es war leicht, denn ihr seid von mir fasziniert gewesen. Nun brauche ich dich noch, dann habe ich wieder für lange Zeit Ruhe.«
Doris Clinton schluckte. Sie wunderte sich gleichzeitig darüber, dass sie noch sprechen konnte. Zu viel war auf sie eingestürmt, in ihrem Hirn türmten und überschlugen sich die Gedanken. Sie bekam die Erklärungen nicht in die richtige Reihenfolge, und auch in ihrem Kopf vermischten sich die Zeiten miteinander. Für sie war es unlogisch, aber war die Beschwörung denn logisch gewesen?
Nein, auch das nicht.
Da sie erhöht stand, musste sie nur den Kopf ein wenig drehen und nach links schauen, um ihre Freunde sehen zu können, deren alte Gesichter so bleich aussahen, als wären mehrere Spinnennetze zwischen die dünnen Falten gewebt worden. Ihre Augen waren blicklos geworden. In ihnen lag die Leere des Todes. Die Körper würden verwesen, sie rochen jetzt schon, und Doris dachte daran, dass es ihr ebenfalls so ergehen würde.
Obwohl sie das alles nicht fassen konnte und selbst wie im Vakuum stand, schüttelte sie den Kopf.
»Was heißt das?«
Die Frau nahm all ihren Mut zusammen. »Ich will nicht!«, keuchte sie. »Ich will nicht so aussehen wie meine Freunde, und ich werde dir meine Jugend nicht geben. Ich will leben und nicht auf diese perverse Art und Weise…«
»Du redest Unsinn!«
»Nein, ich habe mich entschieden!«
Er näherte sein Gesicht dem ihren. »Glaubst du denn, dass du damit durchkommst? Du liegst falsch, völlig falsch. Ich war deinen Freunden überlegen und bin es auch dir.«
Nach dem letzten Wort griff er so schnell zu, dass Doris nicht mehr ausweichen konnte. Die Hand umschloss ihr rechtes Gelenk wie eine kalte Stahlklammer. Sie hörte ihn böse lachen, und dann konnte sie nicht anders, sie musste einfach schreien…
***
Es war genau dieser Schrei gewesen, den wir gehört hatten. In Sekundenbruchteilen hatte er Suko und mich in eine schrille Alarmstimmung versetzt. Bevor wir den Versuch unternahmen, die Tür aufzutreten, probierten wir erst aus, ob sie verschlossen war.
Zum Glück war sie es nicht.
Ich stürmte als Erster in die Scheune hinein, Suko war mir dicht auf den Fersen. Gemeinsam blieben wir
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