0786 - Ort ohne Wiederkehr
sich einstweilen vertagt hatte.
Satans Ministerpräsident und die Fürstin sollten um eine kaiserliche Audienz ersuchen, und der Beobachter wollte sich tunlichst ganz darauf konzentrieren, wie die beiden mit dieser Situation umgingen. Immerhin standen sie diesbezüglich den anderen Dämonen gegenüber in der Pflicht, doch weder Calderone noch Stygia, die beide unter dubiosen Umständen an ihre Ämter gekommen waren, konnte daran gelegen sein, LUZIFER gegenüberzutreten…
Es kam dem Beobachter deshalb nicht ungelegen, dass Asmodis vorerst offenbar nicht zu intervenieren gedachte.
Allerdings wollte er sich von dem alten Teufel auch nicht überraschen lassen.
Darum beschloss er, auch ihn, genau wie Zamorra, einstweilen aus dem Verkehr zu ziehen.
Um Zeit, Mühe und Kraft zu sparen, konnte er Asmodis in derselben Falle festsetzen wie den Meister des Übersinnlichen. Dazu brauchte er die bestehende nur ein wenig zu modifizieren, sozusagen ein Zusatzmodul zu installieren, das auf den Erzdämon abgestimmt war.
Was ihm nicht schwer fiel. Immerhin kannte er Asmodis in- und auswendig, kannte dessen Leben wie ein Buch, in dem er ausgiebig gelesen hatte, mehr noch, fast so, als habe er dieses Leben mit ihm geteilt.
Ein Vergleich, der gar nicht so weit hergeholt war…
Binnen eines Gedankens traf der Beobachter seine Vorbereitungen.
Dann leitete er Asmodis inmitten des Teleportationsvorgangs um auf einen eigens und eilends angelegten »Pfad«, der ihn nicht in das Dorf unterhalb von Zamorras Château führte, sondern in ein ganz anderes…
***
Vom Nebel gedämpft und verzerrt erreichten die Schreie Zamorras Ohr. Sie kündeten von Angst und Tod. Und sie ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Was, um Himmels willen, geschah dort jenseits des Nebels, der wie eine Wand zwischen dem Friedhof und dem Rest des Dorfes stand?
Zamorra schaute auf das Stück Zeitungspapier in seiner Hand hinab. Las das Wort »Massaker«. Die Verbindung zwischen diesem Begriff und den Schreien herzustellen, war nicht schwierig, erfolgte fast automatisch. Und angesichts der irrealen Situation fiel es ihm nicht schwer zu glauben, dass diese Verbindung tatsächlich existierte.
Er sah wieder auf. Sein Blick suchte das Mädchen, fand es aber nicht. Dafür stellte er etwas anderes fest, das ihn noch mehr verblüffte als das abermalige Verschwinden des Kindes - die Grabsteine, die alle dasselbe Sterbedatum gezeigt hatten…
... sie waren fort.
Als hätte es sie nie gegeben.
Wo sich eben noch, vor einem Augenblick, Grab an Grab gereiht hatte, war der Boden nun unberührt, mit Gras bewachsen. Und auch die Friedhofsmauer, die man an einer Stelle niedergerissen hatte, um mehr Platz für die vielen Toten zu schaffen, war jetzt unversehrt.
Zamorras Gedankenapparat raste. Und er kam zu einem Schluss: Es war, als liefe die Geschichte hier für ihn rückwärts ab! Als fänden die schrecklichen Ereignisse, zu denen es in diesem Dorf im Jahr 1899 gekommen war, aus irgendeinem Grund in umgekehrter Reihenfolge statt.
Erst hatte Zamorra das Ende gesehen - das verlassene Dorf also, das die Überlebenden aufgegeben haben mochten, nachdem sie die Toten bestattet hatten. Dann hatte er die Gräber der Ermordeten gefunden. Danach hatte er in einer alten Zeitung von dem Blutbad gelesen. Und jetzt - jetzt spielte sich das eigentliche Geschehen, das schreckliche Morden, direkt vor ihm ab, nur ein paar Schritte entfernt, gnädig vom Nebel verhüllt.
Vielleicht, dachte Zamorra, und seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung, kann ich noch etwas tun. Wenigstens ein paar dieser Menschen retten!
Er rannte, ließ den Friedhof hinter sich, lief an der Kirche vorbei, ins Dorf hinein.
Der Nebel schien vor ihm zurückzuweichen. Immer reichte Zamorras Sicht nur zehn, fünfzehn Meter weit.
Er versuchte sich anhand der Schreie zu orientieren. Aber auch dabei erwies sich der Nebel als Hemmnis. Der dichte Dunst täuschte ihn, fälschte die Schreie ab, lotste Zamorra in die verkehrte Richtung.
Und dann war es vorbei.
Der letzte Schrei verklang.
Stille kehrte ein.
Buchstäbliche Totenstille…
Nichts regte sich, nicht der mindeste Laut war mehr zu hören. Es war, als hielte die Welt selbst den Atem an vor Entsetzen über das, was sich hier zugetragen hatte.
Und Zamorra fühlte sich elend wie bislang selten in seinem Leben…
Er versuchte Trost in dem Gedanken zu finden, dass es ihm womöglich von höheren Mächten nicht beschieden war, in das hiesige Geschehen
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