079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
daß er sich der Faszination, der
Ausstrahlung dieser schönen Frau jedoch kaum entziehen konnte. Er geriet in
ihren Bann, wie jeder, der einmal mit ihr zu tun gehabt hatte.
Madame Sheherezade war schlank und schmal, beinahe asketisch. Wenn
sie sich bewegte, glich das eher einem Schweben als einem Gehen. Sie schien mit
den Füßen kaum den Boden zu berühren.
Sie hatte etwas Fremdartiges an sich, etwas, das man nicht
beschreiben konnte. In ihrer Nähe spürte man, daß diese Frau über den Dingen
dieser Welt stand, daß sie Einblick in ein anderes, unergründliches Reich
genommen hatte.
„Es gibt etwas in diesem Zimmer, das nicht von einem Menschen
hinterlassen wurde, Kommissar", fuhr sie leise, aber deutlich sprechend
fort. „Vielleicht begehe ich jetzt eine Dummheit", sagte sie nach einer
kleine Pause, und ihr Blick wandte sich Larry Brent zu. „Aber ich möchte das
Zimmer, in dem Danielle Rouson ermordet wurde, gerne sehen."
Larry schluckte. Genau das waren seine Gedanken, seine Wünsche
gewesen!
Konnte diese ungewöhnliche Frau die Gedanken der Menschen lesen,
die sich in ihrer Nähe befanden?
X-RAY-3 wußte, daß mit diesem Vorschlag der Inderin eine wichtige
Vorentscheidung für ihn gefallen war.
Sheherezades mediale Fähigkeiten waren unbestritten.
Wenn die Inderin das Mordzimmer betrat, empfing sie die
Ausstrahlungen des Mörders, der vor noch nicht ganz zwölf Stunden sein drittes
Opfer innerhalb eines Vierteljahres geholt hatte.
●
Die Seherin verließ in Begleitung ihres wortkargen Sekretärs das
Hotel.
Larry Brent und Marcel Tolbiac gingen ihr voraus.
Die vier Personen nahmen in dem mausgrauen Citroen Platz, der von
dem Kommissar gesteuert wurde.
Tolbiac war froh, daß sich nun ein anderer mit dem Problem
herumschlug, das ihm schon manche schlaflose Nacht bereitet hatte.
Er überblickte die Dinge nicht mehr, und ein geheimer Wunsch, daß
sich ein Spezialist des Falles annahm, war' schneller in Erfüllung gegangen,
als er gehofft hatte.
Sie fuhren in die Rue du Surmelin.
Die Tür zur Wohnung der Toten war verplombt. Tolbiac löste die
Plombe und öffnete die Tür.
Larry und Tolbiac traten zur Seite.
Die Inderin blieb an der Schwelle stehen. Klein und unscheinbar
wirkte ihr elegant gekleidete Sekretär, der nicht von ihrer Seite wich.
Sheherezade überschritt die Schwelle.
Die Inderin sah sich in dem handtuchschmalen Korridor um und ging
dann in das zur Straßenseite liegende Wohnzimmer.
Das Fenster war geschlossen, die Vorhänge vorgezogen. Das Bett war
zurechtgemacht, alle Spuren der Tat waren beseitigt.
Sheherezad näherte sich dem Bett der Toten und ließ den Blick
aufmerksam über die Einrichtungsgegenstände und über die Ausschmückung des
Raums schweifen. Es gab viele individuelle Dinge, die vom persönlichen
Geschmack der Bewohnerin kündeten. An der Wand hingen mehrere
Schwarz-Weiß-Arbeiten von Louis Blanche.
Sheherezade drehte sich um ihre eigene Achse.
„Ich sehe eine Frau... Sie liegt hier in diesem Bett..."
begann die Inderin unvermutet. Ihre Augen waren geschlossen, wie selbständige
Lebewesen bewegten sich ihre Finger. Sie griffen in die Luft, als modellierten
sie an einer imaginären Gestalt. „Dankelle Rouson ... Sie schläft — sie träumt
— es ist ein furchtbarer Traum ... Das Mädchen sieht eine Schreckgestalt — ein
Riese ... Er kommt auf sie herab, wälzt sich wie ein Berg über sie ... "
Sheherezades Worte kamen schneller, hektischer. Sie atmete flach,
und eidünne Schweißschicht bildete sich auf ihrer Stirn.
Wie erstarrt standen Brent und Tolbiac neben der Tür. Besorgt
blickte der kleine indische Sekretär auf seine Meisterin.
„Dankelle Rouson erwacht ... Dieses Zimmer ist mit Schrecken und
Angst erfüllt ... Sie nistet in den Wänden, wie Schlangen kriecht die Angst auf
mich zu — Angst, die das Mädchen erduldet hat ... Ich höre ihre lautlosen
Schreie ... Wieder sitzt sie im Bett, die Augen schreckgeweitet ... Es ist
Nacht — diese Nacht ... Danielle Rouson ist nicht allein ... Das Ungeheuer aus
ihrem Traum — ist anwesend!"
Sheherezade faßt sich an die Stirn. Die Inderin taumelt. Der
Sekretär beißt sich auf die Lippen, ist wie gelähmt, wagt nicht, seine
Meisterin aus der Trance zu rufen.
Die Seherin macht die Dinge mit ihren Worten sichtbar. Ihre
überempfindlichen Sinne erfassen das Geschehen, das nur für sie erkenntliche
Spuren in diesem Lebensbereich hinterlassen hat. Wie ein Geigerzähler
unsichtbare Radioaktivität
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