0795 - Entführt in die Totenstadt
er.
»Wo finden wir Vasu?«, rief Asha mit aufgewühlter Stimme.
Doch der blinde Wahrsager enttäuschte sie. »Auch das kann ich dir nicht sagen, Asha Devi. Eine Grenze liegt zwischen ihm und uns, die ich nicht überschreiten kann.« Bei diesem Eingeständnis entspannten sich seine Züge, wohl weil er innerlich keine weitere Kontaktaufnahme vorzunehmen versuchte.
»Welche Grenze?«, hakte Zamorra ein.
»Die der Dimensionen oder die des Todes. Oder beide…«, murmelte der Wahrsager geheimnisvoll.
»Des Todes?«, fragte Asha entsetzt. »Du meinst, Vasu ist tot?«
»Ich meine, dass ich es nicht sehen kann, und dass es möglicherweise die Grenze des Todes ist. Doch selbst wenn das der Fall sein sollte, heißt es nicht zwangsläufig, dass dein Sohn gestorben ist.«
Asha schüttelte den Kopf. »Damit kann ich nichts anfangen.« Beschwörend legte sie ihre Hand auf die des Blinden. »Wo finde ich die Entführer?«
Zamorra dachte derweil über die Worte des Wahrsagers nach. Wie konnte jemand die Grenze des Todes überschreiten, ohne zu sterben? Es musste etwas mit der indischen Mythologie zu tun haben, an der mehr Wahres war, als Zamorra noch vor drei Jahren geglaubt hätte. Doch er kam nicht dazu, diesen Gedanken zu verfolgen.
Nach den bisherigen interpretationsbedürftigen Aussagen wurde der Blinde nun sehr konkret. Er nannte einen Stadtteil von New Delhi und bezeichnete die dortige Leichen-Verbrennungsstätte. »Heute Nacht sind sie wieder dort, um neue Instruktionen ihres Auftraggebers in Empfang zu nehmen. Sie werden zu viert sein, und sie werden auf neue Aufgaben warten.«
»Wer ist ihr Auftraggeber?«, hakte Zamorra sofort nach.
»Ich sagte dir doch, ich kann es nicht sehen. Ich…« Sein Gesicht nahm erneut einen verkniffenen Ausdruck an. Die Augenbrauen zogen sich zu einem steilen V in die Höhe. »Es ist sein Bote!«, rief er mit einem Mal laut in das Zimmer hinein. Grauen verzerrte seine Gesichtszüge. »Der Bote, der die Grenze Übertritt!«
Gebannt sahen Nicole, Zamorra und Asha dem unheimlichen Schauspiel zu. Die Atmosphäre im Raum hatte sich verändert, etwas Düsteres lag in der Luft. »Der Hauch des Todes streift mich!«, schrie der Wahrsager und schüttelte sich am ganzen Körper. Dann riss er die blinden Augen auf und schüttelte sich.
Geräuschvoll atmete er auf und erhob sich aus dem Sessel. Die Anspannung fiel merklich von ihm ab. »Lasst mich allein«, forderte er.
Asha nickte. »Ich danke dir für deine Hilfe«, sagte sie und ergriff seine Hand.
»Ich schuldete es dir, Asha«, antwortete der Blinde. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, Künder«, ergänzte er an Zamorra gewandt. »Und auch wir, Geheimnisvolle.« Er streckte die Hand in die Richtung aus, in der er Nicole wusste.
»Ich hoffe es«, sagte Zamorra. Es war keine Floskel, denn dieser Mann vermochte es möglicherweise, einige ungeklärte Rätsel zu lösen und Problemstellungen zu beheben.
Sie verließen das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich.
Keiner hörte noch, wie der blinde Wahrsager murmelte: »Nun sind wir quitt. Asha.« Dann setzte er sich wieder hin. Mit kundigen Fingern drückte er einige Knöpfe auf der Fernbedienung der Stereoanlage.
Bald erscholl Popmusik aus den Lautsprechern, doch auch sie konnte ihn nicht ablenken. »Es war die letzte Möglichkeit, mich zu revanchieren, Asha Devi.«
***
Als die Nacht anbrach, waren Asha, Zamorra und Nicole schon lange an der Leichen-Verbrennungsanlage eingetroffen, die der Wahrsager ihnen bezeichnet hatte. Alles war dunkel, keiner schien sich auf dem Gelände zu befinden. Alle Mitarbeiter waren längst nach Hause zu ihren Familien gegangen.
»Sie sind hier irgendwo«, zischte die vom Dienst suspendierte Inspectorin. »Ich kann es spüren.«
»Ich bin mir sicher, dass du Recht hast«, meinte Zamorra.
»Dein Gefühl in allen Ehren«, ergänzte Nicole, »doch die Begrüßung des Wahrsagers war für mich überzeugender. Ihm vertraue ich, und deswegen rechne ich auch damit, dass die Kerle sich hier irgendwo herumtreiben. Woher kennst du den Blinden?«
»Auch wenn wir Partner sind, braucht ihr nicht alles zu wissen«, kanzelte Asha die Anfrage ab, ergänzte jedoch milder gestimmt, als sie offenbar von einem schlechten Gewissen gepackt wurde: »Ich half ihm einmal, als ich einen Dämon zur Strecke brachte, der sich ihn als Opfer auserkoren hatte. Es war eine ziemlich scheußliche Geschichte, die ihn unter anderem sein Augenlicht kostete.«
»Sie müssen
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