0795 - Entführt in die Totenstadt
setzte allem das I-Tüpfelchen auf.
»Also warten wir darauf, dass ein Wahrsager uns wie ein Orakel auf die Spur Vasus bringen wird.« Nicole saß auf der Rückbank und trommelte mit den Fingern auf der Hinterseite der Kopfstütze des Beifahrersitzes.
»So ist es«, nickte Zamorra seiner Geliebten und Kampfgefährtin zu.
»Findest du nicht auch, dass es wie aus einem schlechten Buch stammt, dass der ominöse Wahrsager zu allem Überfluss auch noch blind sein muss?«
»Er hat es sich bestimmt nicht ausgesucht«, schnauzte Asha Devi, die in diesem Moment die Autotür geöffnet hatte.
Nicole schaute ein wenig betreten drein, fand Zamorra. Doch bevor er oder sie zu einer Erklärung ansetzen konnte, fuhr Asha fort: »Ich weiß, wo ich ihn finde.«
»Wo wir ihn finden, meinst du wohl«, erdreistete sich Nicole zu sagen. »Wir sind Partner, vergiss das nicht.«
»Er erwartet… uns.« Asha startete den Wagen. »Wir müssen uns beeilen. Wir haben in fünfzehn Minuten einen Termin mit ihm, und wir müssen noch einige Kilometer zurücklegen.«
Sie sauste durch die Straßen der Stadt, als sei Stygia persönlich hinter ihr her. Doch das hätte ihr vermutlich weniger ausgemacht, als die Tatsache, dass es um das Leben ihres Sohnes ging. Und da verstand Zamorra sie sehr gut. Mit Stygia konnte man fertig werden, vor allem, wenn man Zamorra im Auto hatte, doch den eigenen Sohn zu verlieren, war ein Schicksal, das man nicht so leicht bewältigen konnte.
Asha raste über eine Ampel, die schon etwa fünfzig Meter vor ihr auf rot schaltete. Sie gab noch zusätzlich Gas und drückte dauerhaft die Hupe, um auf sich aufmerksam zu machen. Zamorra schloss die Augen, als er einen altersschwachen Lastwagen, dem Asha auf diese Weise brutal die Vorfahrt nahm, auf sie zurasen sah. Er hörte Bremsgeräusche, doch sie stammten nicht von ihrem Wagen.
Der erwartete Aufprall blieb aus, und bald darauf hielt Asha an. »Endlich«, entfuhr es ihr und Nicole gleichzeitig. Die Motivation ihrer Stoßseufzer war jedoch wohl sehr unterschiedlich.
»Los geht’s«, meinte Asha. »Er hat es nicht gerne, wenn man ihn warten lässt.«
»Scheint ein vielbeschäftigter Mann zu sein«, flüsterte Nicole ihrem Lebensgefährten zu.
Asha hatte offenbar sehr gute Ohren. »Das ist er«, zischte sie in Nicoles Richtung gewandt. »Und wir können froh sein, dass er uns empfängt. Er schuldet mir noch einen Gefallen.«
»Dann auf zur Audienz.« Zamorra grinste Asha herausfordernd an.
Sie gelangten durch ein altes, doch doppelt verschlossenes Tor, das von einem hageren Inder umständlich geöffnet wurde, als sie sich bemerkbar machten, in ein heruntergekommen aussehendes Haus. »Und hier finden wir den geheimnisvollen Meister?« Zamorra konnte einen gewissen Spott, der sich in seine Überraschung mischte, nicht verbergen.
»Hm«, brummte Asha. »Wer hätte denn umgekehrt gedacht, den Meister des Übersinnlichen bei irgendwelchen Gastvorlesungen in irgendwelchen Universitäten umringt von hübschen Studentinnen zu finden?«
Darauf konnte Zamorra natürlich nichts erwidern. Wo sie Recht hatte, hatte sie eben Recht. Vor allem der Teil mit den hübschen Studentinnen wollte ihm gefallen, wenn er es auch ein wenig anders in Erinnerung hatte. »Da muss ich in Zukunft mal besser hinsehen«, murmelte er vor sich hin und erntete einen zornigen Blick von Nicole.
»Ich kann deine Gedankengänge genau verfolgen«, giftete sie ihm zu. Zamorra wusste aber, dass sie es nicht ernst meinte.
Sie liefen jetzt von dem Inder geführt über einen mit bei jedem Schritt erbärmlich knarrenden Holzbohlen ausgelegten Flur. Vor einer der zahlreichen Türen, in deren Holz verschiedene Zeichen eingeritzt waren, blieb ihr Führer stehen. Er klopfte dreimal rasch hintereinander an und zog sich dann unauffällig zurück.
Asha wartete einige Sekunden, in denen Zamorra vergeblich versuchte, die eingeritzten Symbole zu entziffern und einer ihm bekannten magischen Wirkung zuzuordnen. Indische Mystik und Magie war nicht gerade sein Spezialgebiet, doch er war sich sicher, derartige Zeichen noch nie gesehen zu haben. Dann öffnete Asha die Tür und trat ein.
Zamorra und Nicole folgten ihr und schüttelten in einer synchronen Bewegung den Kopf. »Das gibt es nicht«, murmelte Nicole.
Irgendwie hatte Zamorra unwillkürlich ein klischeehaftes Bild erwartet, einen ausgezehrten mageren haselnussbraunen Asketen, der mit überkreuzten Beinen und mit einem riesigen schneeweißen Turban auf dem Kopf
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