08 - Ehrenschuld
Realität längst hinter sich gelassen haben.
Der Kapitän von MS Nissan Courier hatte keinerlei Warnung erhalten. Sein Schiff war von überwältigender Häßlichkeit, und man hätte meinen können, daß es aus einem massiven rechteckigen Stahlblock hergestellt war, den man mit einem großen Löffel ausgehöhlt hatte, damit er schwimmfähig wurde. Kopflastig und mit einer riesigen Windangriffsfläche geschlagen, die es zum Spielball der sanftesten Winde machte, brauchte es vier MoranSchlepper, um am Kai des Dundalk-Seeterminals im Hafen von Baltimore anzulegen. Die große, ebene Fläche, einst der erste Flughafen der Stadt, bot sich als Annahmestelle für Autos geradezu an. Der Schiffsführer überwachte das komplizierte Anlegemanöver, und erst danach fiel ihm auf, daß der riesige Abstellplatz ungewöhnlich voll war. Merkwürdig, dachte er. Das letzte Nissan-Schiff war vorigen Donnerstag angekommen, und normalerweise hätte der Parkplatz halb leer sein müssen. Außerdem sah er, daß nur drei Autotransporter beladen wurden, um ihre Fracht zum nächsten Händler zu befördern; sonst standen sie Schlange wie Taxis vor einem Bahnhof.
»Die scheinen es ernst zu meinen«, bemerkte der Lotse der Chesapeake Bay. Er war bei den Virginia Capes an Bord der Courier gegangen und hatte auf dem dort ankernden Lotsenboot die Fernsehnachrichten verfolgt. Kopfschüttelnd ging er zum Fallreep. Sollte doch der Lademeister dem Kapitän Bescheid sagen.
Genau das tat der Lademeister, der gerade das Fallreep hochstieg. Auf dem Abstellplatz waren allenfalls noch zweihundert Autos unterzubringen, und er hatte noch keine Anweisungen, was er dem Kapitän sagen sollte. Gewöhnlich lag das Schiff höchstens vierundzwanzig Stunden im Hafen, die Zeit, die man brauchte, um das Schiff zu entladen und mit Treibstoff und Proviant zu versorgen, damit nach einer Fahrt um die halbe Welt derselbe Vorgang in umgekehrter Reihenfolge ablaufen konnte, worauf das Schiff dann voll beladen wieder die Reise nach Amerika antrat. Die Schiffe dieser Flotte unterlagen einem unerbittlichen Fahrplan, dessen Daten feststanden wie die Sterne am Nachthimmel.
»Was haben Sie gesagt?« fragte der Kapitän.
»Jedes Auto muß einer Sicherheitsinspektion unterzogen werden, bevor es weitertransportiert werden kann.« Der Lademeister deutete auf das Terminal. »Schauen Sie doch selbst.«
Das tat der Kapitän. Durch sein Nikon-Fernglas sah er sechs Zollbeamte, die mit einem hydraulischen Wagenheber ein neues Auto hochhievten, damit einer von ihnen aus welchem Grund auch immer darunterkriechen konnte, derweil sie auf einer Reihe von amtlichen Formularen Eintragungen machten. Sie hatten es offensichtlich nicht eilig. Sie schienen sich mit heiterer Gelassenheit zu bewegen, statt so fleißig zu arbeiten, wie es sich für Staatsbedienstete gehörte. Deshalb kam er nicht darauf, daß dies etwas zu tun haben könnte mit seinen eigenen Beobachtungen im Heimathafen Yokohama, wo japanische Zollbeamte entsprechende, aber sehr viel eingehendere Inspektionen an amerikanischen, deutschen und schwedischen Autos vornahmen.
»Aber das kann ja Tage dauern!« platzte es aus ihm heraus.
»Vielleicht eine Woche«, meinte der Lademeister optimistisch.
»Aber hier kann doch nur ein Schiff anlegen! Die Nissan Voyager ist in siebzig Stunden hier.«
»Ich kann nichts dafür.«
»Aber mein Fahrplan ...« Die Stimme des Kapitäns verriet blankes Entsetzen ...
»Dafür kann ich auch nichts«, meinte der Lademeister geduldig gegenüber einem Mann, dessen berechenbare Welt gerade zusammengebrochen war.
»Was können wir tun?« fragte Seiji Nagumo.
»Wovon sprechen Sie?« erwiderte der Vertreter des Handels
ministeriums.
»Dieser schreckliche Unfall.« Nagumo war ehrlich entsetzt. Japan war
von seiner traditionellen Bauweise aus Holz und Papier längst zu solideren
Bauten übergegangen, aber die Angst vor dem Feuer war tief in seinen
Einwohnern verwurzelt. Wer auf seinem Grundstück ein Feuer entstehen
ließ, das auf andere Grundstücke übergriff, mußte nicht bloß mit
Schadenersatzforderungen, sondern auch mit strafrechtlichen Folgen
rechnen. Er empfand echte Scham darüber, daß ein in seinem Land
hergestelltes Produkt Ursache eines so entsetzlichen Todes geworden war.
»Ich habe noch kein offizielles Kommunique meiner Regierung erhalten,
aber ich darf Ihnen von mir aus versichern, daß ich für mein Entsetzen keine
Worte finde. Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen.« »Das kommt ein
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