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08 - Ehrenschuld

08 - Ehrenschuld

Titel: 08 - Ehrenschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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irgendwas. Ich habe es auf einen Zug ausgetrunken.
Er stand einfach da und schaute mich an, ohne ein Wort, schaute mich einfach an, so als wüßte er, daß es bald passieren würde. Es war wie ... ich weiß nicht. Ich wußte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, als wäre ich auf einen Schlag betrunken geworden, nicht mehr Herrin meiner selbst.« Jetzt verstummte sie für etwa fünfzehn Sekunden, und Dr. Golden schaute sie an wie er es getan hatte, dachte sie. Die Ironie erfüllte sie mit Scham, aber hier ging es um die Sache; es war ein klinischer Fall, und sie sollte helfen und nicht verletzen. Ihre Patientin hatte den Hergang jetzt deutlich vor Augen. Das las sie ihr vom Gesicht ab, das kannte sie. So als ob sie in ihrem Inneren ein Video betrachtete, lief die Szene vor ihr ab, und Barbara Linders kommentierte bloß, was sie sah, statt wahrheitsgemäß von dem schrecklichen persönlichen Erlebnis, das sie durchgemacht hatte, zu berichten. Zehn Minuten lang schilderte sie es, ohne auch nur ein einziges klinisches Detail auszulassen, und ihr geübtes professionelles Gedächtnis funktionierte, wie man es von ihr erwarten konnte. Erst gegen Ende meldeten sich die Gefühle zurück.
»Er hätte mich nicht zu vergewaltigen brauchen. Er hätte bitten können. Ich hätte ... Ich meine, an einem anderen Tag, am Wochenende ... Ich wußte, daß er verheiratet ist, aber ich mochte ihn, und ...«
»Aber er hat Sie vergewaltigt, Barbara. Er hat sie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt.« Jetzt streckte Dr. Golden ihr die Hand entgegen und nahm ihre Hand, denn nun war alles heraus. Barbara Linders hatte den ganzen entsetzlichen Vorgang artikuliert, wahrscheinlich zum ersten Mal. In der Zwischenzeit hatte sie immer wieder Einzelheiten durchlebt, besonders den schlimmsten Teil, aber jetzt hatte sie den ganzen Hergang in chronologischer Reihenfolge von Anfang bis Ende geschildert, und diese Schilderung wirkte genauso traumatisch und kathartisch, wie sie wirken sollte.
»Da muß noch etwas sein«, sagte Golden, nachdem das Schluchzen sich gelegt hatte.
»Stimmt«, sagte Barbara, ohne zu zögern und eigentlich nicht erstaunt, woher ihre Psychologin das wußte. »Auf jeden Fall noch eine Frau aus dem Büro, Lisa Beringer. Sie ... hat sich ein Jahr später umgebracht; sie fuhr mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler, es sah aus wie ein Unfall, sie hatte getrunken, aber sie hatte in ihrem Schreibtisch einen Brief hinterlassen. Ich räumte ihren Schreibtisch aus ... und fand ihn.« Jetzt langte Barbara Linders zur Verblüffung von Dr. Golden in ihre Handtasche und holte ihn hervor. Der Brief steckte in einem blauen Umschlag, sechs Blatt Briefpapier mit Lisa Beringers eingedruckten Namen, eng beschrieben in der klaren Handschrift einer Frau, die beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu machen, die aber wünschte, daß jemand anders erführe, warum.
Dr. Clarice Golden hatte solche Briefe schon gesehen, und es erfüllte sie mit traurigem Erstaunen, daß Menschen so handeln konnten. Sie sprachen immer von einem unerträglich gewordenen Schmerz, aber deprimierend oft verrieten sie die verzweifelte Gemütsverfassung eines Menschen, den man hätte retten und heilen und wieder in ein erfolgreiches Leben hinausschicken können, wenn er nur auf die Idee gekommen wäre, einen einzigen Telefonanruf zu machen oder sich an einen einzigen nahen Freund zu wenden. Golden erkannte schon nach zwei Absätzen, daß Lisa Beringer bloß ein weiteres unnötiges Opfer gewesen war, eine Frau, die sich tödlich einsam gefühlt hatte in einem Büro voller Menschen, die ihr zu Hilfe geeilt wären.
Psychologen verstehen sich darauf, ihre Gefühle zu verbergen, und sie brauchen diese Fähigkeit aus naheliegenden Gründen. Clarice Golden übte diesen Beruf seit knapp dreißig Jahren aus, und zu ihrem gottgegebenen Talent war eine lebenslange Berufserfahrung hinzugekommen. Besonders darin bewandert, den Opfern sexuellen Mißbrauchs zu helfen, zeigte sie Mitgefühl, Verständnis und Ermutigung in großer Quantität und hervorragender Qualität, doch so echt es auch war, verbarg sie doch nur ihre wahren Gefühle dahinter. Sie verabscheute Sexualtäter genauso wie jeder Polizist oder vielleicht noch stärker. Der Polizist sah den Körper des Opfers, sah ihre Quetschungen und Tränen, hörte ihre Schreie. Die Psychologin hatte länger damit zu tun, forschte in der Seele nach den quälenden Erinnerungen und suchte nach einem Weg, sie aus dem Gedächtnis zu löschen.

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