08 - Ehrenschuld
offensichtlich trocken, und sie starrten ihn einfach an - oder vielleicht war der Blick auch nur in seine Richtung gewandert und dort haften geblieben, überlegte der frühere Ministerpräsident. Aber wie immer sein Blick auch sein mochte, er verriet jedenfalls nicht, was sich dahinter verbarg. Er hatte schon von Kiyoshi Kaneda gehört, und meistens wurde er als ronin bezeichnet, eine historische Anspielung auf jene Samurai, die ihren Meister verloren hatten und keinen anderen finden konnten; zu ihrer Zeit galt dies als große Schande. Solche Männer waren Banditen oder gar Schlimmeres geworden, wenn sie sich nicht mehr an den bushido Kodex gebunden fühlten, der tausend Jahre lang die Mitglieder der japanischen Kriegerkaste zusammengehalten hatte. Wenn solche Männer einen neuen Meister gefunden hatten, erinnerte sich Koga, waren sie Fanatiker geworden. Sie waren so ängstlich darauf bedacht, ihren Status wiederzuerlangen, daß sie dafür beinahe alles getan hätten.
Es war töricht, solchen Gedanken nachzuhängen, während er den Mann anstarrte, der gerade vor dem Fernsehgerät saß. Die Zeit der Samurai war längst vorbei, und mit ihnen waren auch ihre Meister, die Feudalherren, ausgestorben. Und doch saß dieser Mann hier, sah sich einen Samuraifilm auf NHK an, trank Tee und saugte jede Szene förmlich in sich auf. Er reagierte überhaupt nicht, als sei er von diesen stark ritualisierten Erzählungen wie hypnotisiert.
Koga stand auf und ging wieder zum Bücherregal, und das war alles, was er tun mußte, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu ziehen. Wachhund, dachte Koga, ohne sich umzudrehen, als er das nächste Buch auswählte. Noch dazu ein guter, vor allem, da es noch vier andere gab. Zwei schliefen, einer war in der Küche, und einer stand vor der Tür. Er hatte keine Chance zu entkommen, das wußte der Politiker. Vielleicht ein Dummkopf, aber von der Sorte, vor der ein vorsichtiger Mann sich hüten sollte.
Wer war Kaneda eigentlich? fragte er sich. Vermutlich ein ehemaliger yakuza. Man sah allerdings keine dieser seltsamen Tätowierungen an ihm, die Angehörige dieser Subkultur gern zur Schau stellten. De facto war er ein Wachhund. Scheinbar teilnahmslos, scheinbar entspannt, war er in Wahrheit mehr wie eine Sprungfeder, sofort bereit zuzuschlagen, und nur so lange zivilisiert, wie niemand in seiner Nähe seinen Unmut erregte. Das alles war so offensichtlich, daß nur ein Wahnsinniger ihn herausgefordert hätte. Der Politiker schämte sich, weil er sich so leicht einschüchtern ließ, aber er fürchtete sich nur, weil er ein kluger und nachdenklicher Mann war, der seine einzige Chance - falls er überhaupt eine hatte - nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen wollte.
Viele Industrielle hatten Gefolgsleute wie Kaneda. Einige trugen sogar Schußwaffen, was in Japan beinahe undenkbar war. Eine Schußwaffe war für Koga das personifizierte Böse, etwas, das nicht zu seiner Kultur gehörte, die Waffe eines Feiglings. Das war es also, womit er hier konfrontiert war. Kaneda war zweifelsohne ein Feigling, nicht in der Lage, sein eigenes Leben zu meistern, bereit, auf Befehl anderer hin das Gesetz zu brechen aber auf diesen Befehl hin wäre er zu allem im Stande. Welch eine Beschmutzung der Landesehre. Leute wie Kaneda wurden von ihren Meistern benutzt, um gegen Gewerkschaften und geschäftliche Konkurrenten gewaltsam vorzugehen. Leute wie Kaneda hatten schon Demonstranten angegriffen, manchmal sogar in aller Öffentlichkeit, und waren ungestraft davongekommen, weil die Polizei wegschaute oder es fertigbrachte, nicht vor Ort zu sein, obwohl Reporter und Fotografen sich zu dem jeweiligen Tagesereignis eingefunden hatten. Solche Leute und ihre Hintermänner verhinderten wahre Demokratie in seinem Land. Diese Erkenntnis war für Koga besonders bitter, denn er hatte es seit Jahren mitbekommen, hatte sein Leben dem Versuch gewidmet, dies zu ändern, und war letzten Endes gescheitert. Und so saß er also jetzt in Yamatas Penthousewohnung, wurde bewacht, und vermutlich würde man ihn freilassen, wenn er keinen politischen Einfluß mehr hatte oder bald keinen mehr haben würde.
Schlachten dieser Art hatten bisher nur als Simulation stattgefunden oder vielleicht in den Arenen des alten Rom. Auf beiden Seiten gab es Frühwarnund Aufklärungsflugzeuge, E-767 auf der japanischen und E-3B auf der amerikanischen Seite - so weit auseinander, daß sie einander nicht einmal auf den zahlreichen Radarschirmen »sehen« konnten,
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