08 Geweihte des Todes - Adrian Lara
frei von ihm.
Seit sie die Röntgenaufnahmen und die Überwachungsvideos aus dem Krankenzimmer gesehen hatte, wusste sie mit absoluter, grauenvoller Gewissheit, dass ein Teil dieses Monsters sie immer noch in seinen grausamen Klauen hielt. Allein das schon wäre eigentlich genug, um vor Entsetzen zu schreien. Tief in ihr herrschten Angst und Kummer, aber sie gab sich alle Mühe, die Hysterie zu unterdrücken, die in ihr brodelte; weigerte sich, diese Art von Schwäche zu zeigen, selbst ihrer besten Freundin gegenüber.
Aber gleichzeitig spürte sie auch eine tiefe Ruhe in sich, wie schon die ganze Zeit im Krankenzimmer – und zwar vom Augenblick an, als Brock seine Hände auf sie gelegt und ihr versprochen hatte, dass sie in Sicherheit war. Diese Zusicherung, zusammen mit ihrer eigenen eisernen Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen, war es, was ihren Zusammenbruch verhinderte, als sie jetzt zusammen mit Alex die labyrinthartigen Korridore durchwanderte.
„Wir sind schon fast da“, sagte Alex und führte sie um eine Biegung in einen weiteren langen Gang. „Ich dachte, es ist angenehmer für dich, bei mir und Kade in der Wohnung zu duschen und dich umzuziehen als drüben in der Krankenstation.“
Jenna gelang ein vages Nicken, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, sich irgendwo an diesem seltsamen, unvertrauten Ort wohlzufühlen . Sie ging vorsichtig, und ihre eingerosteten Bulleninstinkte flackerten auf, als sie an immer neuen Türen ohne Aufschrift vorüberging. Hier gab es kein einziges Fenster nach draußen, nichts, das Aufschluss darüber gab, wo sich diese sogenannte Einrichtung befand, noch darüber, was sich hinter diesen Wänden verbarg. Man konnte nicht einmal sagen, ob es draußen Tag oder Nacht war.
Hier wie auch in allen anderen Korridoren waren überall kleine schwarze Halbkugeln an der Decke angebracht, in denen sich offenbar Überwachungskameras verbargen. Es war alles sehr Hightech, sehr abgeschottet und sehr gesichert.
„Was ist das hier, ein Regierungsgebäude?“, fragte sie und äußerte ihren Verdacht laut. „Definitiv keine Zivilbehörde. Ist das eine Einrichtung der Armee?“
Alex warf ihr einen zögernden, prüfenden Seitenblick zu. „Es ist noch viel sicherer als das. Wir sind hier etwa dreißig Stockwerke unter der Erde, in einem Außenbezirk von Boston.“
„Ein Bunker also“, riet Jenna und versuchte immer noch, sich einen Reim auf das alles zu machen. „Wenn er nicht der Regierung oder der Armee gehört, wem dann?“
Alex schien einen Augenblick länger als nötig über ihre Antwort nachzudenken. „Das unterirdische Hauptquartier und das gesicherte Anwesen darüber gehören dem Orden.“
„Dem Orden“, wiederholte Jenna und dachte, dass Alex’ Erklärung mehr Fragen aufwarf als beantwortete. An einem Ort wie diesem war sie noch nie gewesen. Sein Hightechdesign hatte etwas Fremdartiges, es war so ganz anders als alles, was sie im ländlichen Alaska oder an den Orten im US -amerikanischen Kernland, die sie kannte, jemals gesehen hatte.
Dieser fremdartige Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass der polierte weiße Marmor unter ihren Schlappen mit Intarsien aus glänzendem schwarzem Stein verziert war, die ein unendliches Muster seltsamer Symbole bildeten – kunstvolle Schnörkel und komplexe geometrische Formen, die irgendwie an Stammestattoos erinnerten.
Dermaglyphen.
Das Wort drang aus dem Nichts in ihre Gedanken, die Antwort auf eine Frage, die sie nicht einmal hätte formulieren können. Es war ein unbekanntes Wort, so unvertraut wie ihre ganze Umgebung und die Leute, die offenbar hier lebten. Und doch gab die Gewissheit, mit der ihr Verstand ihr diesen Begriff geliefert hatte, ihr das Gefühl, als hätte sie es schon Tausende von Malen gedacht oder gesagt.
Unmöglich.
„Jenna, alles okay mit dir?“ Alex blieb einige Schritte vor Jenna auf dem Korridor stehen. „Bist du müde? Legen wir eine Pause ein.“
„Nein, alles in Ordnung.“ Sie spürte, dass sie die Stirn runzelte, als sie von dem kunstvollen Muster auf dem glatten Marmorboden aufsah. „Ich bin bloß … durcheinander.“
Und das lag nicht nur an dem seltsamen Ort, an dem sie sich wiedergefunden hatte. Alles fühlte sich anders an, sogar ihr eigener Körper. Nach fünf Tagen Bewusstlosigkeit in einem Krankenbett müsste sie doch eigentlich völlig erschöpft sein, dachte sie, selbst nach dieser kurzen Strecke, die sie eben gegangen war.
Nach so langer Inaktivität
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