08 Geweihte des Todes - Adrian Lara
„Dylan und die anderen haben anscheinend schon geschafft, dich zu rekrutieren.“
Sie zuckte schwach die Schultern. „Ich hab nur … ich hab mir nur ein paar Sachen angesehen. Die Einträge in ein paar Akten verglichen und mir ein paar Notizen dazu gemacht.“
Brock setzte sich auf den Stuhl neben ihr. „Das wird sie freuen“, sagte er, beeindruckt, dass sie ihnen half. Er streckte die Hand nach ihren Notizen aus. „Darf ich mal sehen?“
„Viel ist es nicht“, sagte sie. „Aber manchmal hilft es einfach, wenn ein Außenstehender mal drüberschaut.“
Er sah auf ihre klare, präzise Handschrift, die fast die ganze Seite bedeckte. Ihr Verstand schien auf dieselbe organisierte Art zu funktionieren, wie er am logischen Aufbau ihrer Notizen erkannte, und an ihrer Liste neuer Recherchevorschläge für die Vermisstenfälle, die Dylan und die anderen Stammesgefährtinnen in den letzten Monaten untersucht hatten.
„Gute Arbeit“, sagte er, nicht, um ihr zu schmeicheln, sondern ganz sachlich. „Man merkt, dass du eine verdammt gute Polizistin bist.“
Wieder dieses verneinende Schulterzucken. „Ich bin keine mehr, ich bin schon lange aus dem Dienst ausgeschieden.“
Er beobachtete sie beim Sprechen, hörte das Bedauern in ihrer Stimme heraus. „Das heißt aber nicht, dass du’s nicht immer noch draufhast.“
„Ich hab’s schon seit einer ganzen Weile nicht mehr drauf. Es ist was passiert, und ich … ich hab meinen Biss verloren.“ Unerschrocken sah sie zu ihm hinüber. „Vor vier Jahren gab es einen Autounfall. Mein Mann und meine sechsjährige Tochter sind beide gestorben, aber ich habe es irgendwie überlebt.“
Brock nickte schwach. „Ich weiß. Mein Beileid.“
Sein Mitgefühl schien sie etwas nervös zu machen, als wäre sie nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Vielleicht wäre es einfacher für sie gewesen, über ihre Tragödie zu reden, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er schon Bescheid wusste. Jetzt sah sie ihn unsicher an, als hätte sie Angst, dass er sie irgendwie verurteilen würde. „Ich … wollte lange nicht wahrhaben, dass Mitch und Libby tot waren. Ich weiß seit damals kaum, wie ich nach alldem noch weiterleben soll. Sogar heute noch.“
„Du bist am Leben“, sagte Brock. „Das ist alles, was du tun kannst.“
Sie nickte, aber in ihren Augen lag ein gehetzter Ausdruck. „Es klingt so einfach, wie du es sagst.“
„Nicht einfach, nur notwendig.“ Er sah zu, wie sie müßig an einer verbogenen Heftklammer auf einem der Berichte herumzupfte. „Bist du deshalb aus dem Polizeidienst ausgeschieden? Weil du nach dem Unfall nicht mehr gewusst hast, wie du weiterleben sollst?“
Sie starrte auf die Aktenstapel vor ihr auf der Tischplatte und schwieg lange. „Ich habe meinen Job gekündigt, weil ich meine Pflichten nicht mehr ausüben konnte. Jedes Mal, wenn ich zu einem Verkehrsunfall gerufen wurde, auch wenn es nur Kleinigkeiten wie eine verbeulte Stoßstange oder ein geplatzter Reifen waren, habe ich so schlimm gezittert, dass ich am Unfallort kaum noch aus dem Wagen steigen konnte. Und nach den wirklich schlimmen Fällen, den schweren Unfällen oder den häuslichen Streitigkeiten, die gewalttätig endeten, war mir tagelang sterbensübel. Alles, was ich bei meiner Ausbildung und im Job gelernt hatte, war schlagartig weg, als dieser Sattelschlepper voller Bauholz über die vereiste Schnellstraße zu uns auf die Gegenfahrbahn gekommen ist und mein Leben zerstört hat.“ Da sah sie zu ihm hinüber, ihre grünbraunen Augen hartnäckiger und unbeirrbarer denn je. „Ich habe aufgehört, weil ich wusste, dass ich den Job nicht mehr machen konnte, wie er gemacht werden musste. Ich wollte nicht, dass jemand, der auf mich angewiesen ist, womöglich für meine Nachlässigkeit zahlen muss. Also habe ich gekündigt.“
Brock hatte Jennas Mut und Unverwüstlichkeit schon von dem Moment an respektiert, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt war sie in seiner Achtung nochmals gewaltig gestiegen. „Dir war deine Arbeit wichtig und die Leute, die auf dich angewiesen waren. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Und du hast deine Arbeit ja offensichtlich geliebt. Ich glaube, das tust du immer noch.“
Warum er mit dieser schlichten Beobachtung einen wunden Punkt bei ihr treffen sollte, wusste er nicht, aber er hätte blind sein müssen, um das abwehrende Aufblitzen in ihren Augen nicht zu bemerken. Sie wandte den Blick ab, als hätte sie ihre
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