08 - Im Angesicht des Feindes
und Lottie haben nichts als Dummheiten im Kopf. Süßigkeiten klauen. Alte Leute ärgern. Sich beim Buchmacher herumtreiben, wo sie nichts zu suchen haben. Ohne Eintrittskarte ins Kino schlüpfen. Sie haben nichts von Breta gehört? Mrs. Bowen hat Ihnen nicht von ihr erzählt?«
Er schob seine Hände tiefer in die Achselhöhlen, und seine Schultern fielen noch weiter nach vorn. Damien Chambers mußte mindestens dreißig Jahre alt sein, aber in dieser Haltung wirkte er eher wie ein Altersgenosse Charlottes denn wie ein Mann, der theoretisch ihr Vater hätte sein können.
»Was hatte sie an, als sie heute nachmittag bei Ihnen wegging?« fragte St. James.
»Was sie anhatte? Na, ihre Kleider. Ich meine, was hätte sie denn anhaben sollen? Sie hat sich hier nicht ausgezogen. Nicht mal ihre Strickjacke. Weshalb auch?«
St. James spürte Helens beunruhigenden Blick auf sich. Er zeigte Chambers eine Fotografie, die Eve Bowen ihnen gegeben hatte. Der Musiklehrer sagte: »Ja, das hat sie immer an. Das ist ihre Schuluniform. Häßliche Farbe, dieses Grün, nicht? Sieht aus wie Schimmelpilz. Sie mag sie gar nicht. Ihr Haar ist jetzt allerdings kürzer als hier auf dem Bild. Sie hat es sich am letzten Samstag schneiden lassen. Sah aus wie eine frühe Beatlesfrisur, Sie wissen schon - so ein Pilzkopf. Heute nachmittag hat sie furchtbar darüber geschimpft. Sie meinte, jetzt sähe sie wie ein Junge aus, aber sie würde sich die Lippen anmalen und Ohrringe antun, damit die Leute sehen, daß sie ein Mädchen ist. Sie sagte, Cito - so hat sie ihren Stiefvater genannt, aber das wissen Sie wahrscheinlich schon, nicht wahr? Es kommt von papacito. Sie lernt Spanisch in der Schule. Ja, also, sie sagte, Cito hätte ihr erklärt, Lippenstift und Ohrringe seien längst kein Indiz mehr für das Geschlecht des Trägers, aber ich glaube nicht, daß sie verstanden hat, was er damit meinte. Erst letzte Woche hat sie ihrer Mutter einen Lippenstift stibitzt. Und als sie heute hier ankam, hatte sie sich angemalt. Sie sah wie ein kleiner Clown aus, weil sie keinen Spiegel dabeihatte und sich über die Lippen hinausgemalt hatte. Ich mußte mit ihr nach oben ins Bad gehen und ihr im Spiegel zeigen, wie sie sich verschmiert hatte.« Er hüstelte hinter vorgehaltener Hand und schob die Hand dann wieder in die Achselhöhle. »Das war natürlich das einzige Mal, daß sie oben war.«
St. James spürte, wie Helen auf der Bank neben ihm erstarrte. Er beobachtete den Musiklehrer und dachte über die möglichen Ursachen seiner Nervosität nach - und darüber, was oder wer ihn veranlaßt hatte, so hastig nach oben zu laufen, als sie gekommen waren. Er sagte: »Ist dieses andere kleine Mädchen - Breta - manchmal mit Charlotte zur Stunde gekommen?«
»Fast immer.«
»Heute auch?« »Ja. Wenigstens sagte Lottie, Breta habe sie begleitet.«
»Sie selbst haben die Kleine nicht gesehen?«
»Ich lasse sie nie herein. Sie würde Lottie zu sehr ablenken. Sie wartet immer beim Prince Albert Pub. Da lungert sie zwischen den Tischen auf dem Bürgersteig herum. Sie haben das Lokal wahrscheinlich bemerkt. Am Bulstrode Place, gleich an der Ecke.«
»Und da war das Mädchen auch heute?«
»Lottie sagte mir, Breta warte auf sie, deshalb wollte sie ja so schnell gehen.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht und biß sich auf die Unterlippe. »Wissen Sie, es würde mich gar nicht wundern, wenn Breta irgendwie mit dieser Geschichte zu tun hätte. Ich meine, mit Lotties Durchbrennen. Sie ist doch durchgebrannt, nicht wahr? Sie sagten, sie sei verschwunden, aber Sie glauben doch nicht, daß - daß ein Verbrechen vorliegt?« Er verzog das Gesicht bei den letzten Worten und klopfte zusehends nervöser mit einem Fuß auf den Boden.
Helen beugte sich vor. Das Zimmer war so klein, daß sie alle drei dicht beieinander saßen. Sie nutzte diese Nähe und legte Chambers behutsam ihre Hand aufs Knie. Er hörte sofort auf, mit dem Fuß zu klopfen.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin nervös. Ist ja klar.«
»Ja«, sagte Helen. »Ich sehe es. Warum?«
»Na, die Sache rückt mich in ein schlechtes Licht. Diese Geschichte mit Lottie. Ich könnte derjenige sein, der sie zuletzt gesehen hat. Und das würde sich nicht gut ausnehmen.«
»Wir wissen noch nicht, wer sie zuletzt gesehen hat«, erwiderte St. James.
»Und wenn es in die Zeitungen kommt ...« Chambers krümmte sich noch weiter zusammen. »Ich gebe Kindern Musikunterricht. Für das Geschäft wird es kaum von Vorteil
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