0809 - Das Schlangenkreuz
weglaufen, bevor sie herkommen. Sie wollen dir bestimmt an die Wäsche.«
Marsha Blanc war nach dieser Antwort das Lachen vergangen. Sie wusste, dass es ernst wurde. Deshalb nickte sie dem Jungen zu.
»Warte, ich ziehe mir nur andere Schuhe an.«
Mario war einverstanden. Er folgte Marsha in den Flur, wo er sich an der Tür aufhielt, sich bückte und durch das Schlüsselloch nach draußen schaute.
Er sah nur einen kleinen Ausschnitt des Geländes vor dem Haus, und dort bewegten sich keine Fremden. Nur die Schatten waren länger und die Mückenschwärme größer geworden.
»Wir können gehen«, sagte Marsha und wollte die Tür öffnen, aber Mario war schneller.
Er legte blitzartig seine Hand auf die ihre und schüttelte den Kopf. »Nicht so schnell…«
»Meinst du?«
Mario öffnete vorsichtig. Er schaute durch den schmalen Spalt, vergrößerte ihn dann und spürte den warmen Atem der hinter ihm stehenden Frau über seinen Nacken streifen.
»Ich denke, es ist okay.«
»Geh endlich!« Marsha drückte ihn nach vorn, und Mario überwand die Schwelle mit einem leichten Sprung. Geduckt blieb er stehen, blickte sich wieder um, und erst als er sicher war, gab er Marsha das Zeichen, ihm zu folgen.
Sie liefen nach rechts, wo ein alter Zaun das Grundstück eingrenzte. Es wäre nicht nötig gewesen, denn mittlerweile war er von wild wuchernden Pflanzen überwachsen.
Als Mario der Frau zuwinkte, hörten sie beide das Geräusch eines anfahrenden Wagens. »Das sind sie!«, flüsterte der Junge und klammerte sich für einen Moment an Marsha fest. »Wenn wir jetzt nicht schnell sind, haben wir keine Chance mehr.«
Das wusste auch Marsha, deshalb verließ sie sich nach wie vor auf den Jungen, der sich geschickt durch das Gestrüpp wand und über den Zaun kletterte.
Er sprang an der anderen Seite zu Boden, wunderte sich dann, wie gelenkig Marsha noch sein konnte und zerrte sie weiter. Sie überquerten einen schmalen Weg und gerieten auf eine feuchte Rasenfläche, die nach unten hin abfiel.
An ihrem Ende befand sich ebenfalls ein schmaler Pfad. Er führte parallel zu einem Kanal, dessen Wasser schwarzgrün schimmerte und faulig stank. Insekten schwirrten über die Oberfläche und hatten sich auch an den Rändern der Wasserstraße versammelt.
Der Kanal war so schmal, dass kein Boot an seinem Ufer ankern durfte. Aufder anderen Seite allerdings waren kleine Gärten angelegt worden, in denen Gemüse und Obst wuchs. Einige Männer und Frauen kümmerten sich um die Parzellen, denn jetzt, wo die Sonne tiefer gesunken war, ließ es sich wieder im Freien arbeiten.
Marsha wollte von dem Jungen wissen, wo er sie hinbrachte.
»Zu uns.«
»Wissen deine Eltern Bescheid?«
»Nein, sie sind nicht da. Die kommen erst später wieder.«
»Heute noch?«
»Das weiß ich nicht.«
Marsha wusste, dass Mario und seine Eltern auf einem der Boote lebten. Sie fühlten sich dort wohler als in einem Haus. Manchmal, wenn es ihnen in den Sinn kam, dann legten sie ab und verschwanden für einige Tage aus der Gegend.
Beide liefen auf dem Pfad neben dem Kanal weiter und waren durch die flache Böschung einigermaßen gut gedeckt. Wenig später schon erreichten sie den breiten Kanal, auf dem auch die Hausboote lagen. Es war eine kleine Welt für sich, die sich hier entwickelt hatte.
Oft genug wurden Feste gefeiert und die Boote dann geschmückt.
Dann leuchteten die bunten Lampen wie lange Ketten, als wollten sie allen klar machen, dass sich die Menschen auch mal eine Freude gönnten.
An diesem frühen Abend war alles still. Es war auch kaum ein Mensch an Deck seines Bootes zu sehen, was Marsha irritierte. Sie hielt Mario so stark fest, dass der Junge stoppen musste. »Was ist denn hier passiert?«, fragte sie. »Warum ist es hier so still wie in einer Kirche vor dem Gottesdienst?«
»Sie haben alle Angst«, flüsterte der Junge.
Beinahe hätte Marsha gelacht. Sie unterdrückte es im letzten Augenblick. »Vor wem denn? Vor den beiden Männern?«
»Nein, es waren noch andere da.«
»Was? Das sagst du erst jetzt?«
»Ja, sie waren woanders. Sie haben nach dem Pater gesucht und auch nach dir.«
Erst jetzt wurde Marsha Blanc klar, dass sie den Jungen durchaus als ihren vorläufigen Lebensretter ansehen konnte. Wäre sie im Haus geblieben, hätte man sie schon längst gefunden.
Er stand vor ihr, sie schaute auf ihn nieder, und dann musste sie ihn einfach umarmen. Sie stattete ihm auf diese Art und Weise ihren ganz persönlichen Dank ab.
»Lass
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