0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
an. »Wie meinst du das?«
»Sie haben mir das Pergament gegeben, und sie haben mir erlaubt, Yau Hwei-Kong in ihrem Namen zu reaktivieren.«
»Als Dank für deine Hilfe bei der Rettung Hongkongs. Du hast damit deine Seele nicht verkauft.«
»So sieht es jetzt aus. Aber irgendwann werden sie mich daran erinnern, dass ich ihnen noch einen Gefallen schulde. So ist es immer. Nichts ist umsonst in ihrer Welt, und am Ende gewinnen immer die Neun Drachen.«
»Diesmal nicht!«, sagte Zamorra bestimmt. »Keine Sorge, sie werden dich nicht wieder in ihre Finger kriegen. Dafür sorgen wir!«
Chin-Li hoffte, dass er Recht hatte. Aber überzeugt war sie nicht.
***
Sie brachen in aller Frühe auf.
»Du weißt schon, dass das Wahnsinn ist, oder?«, fragte Nicole, als sie zum Wasser hinuntergingen, wo Yau am Vorabend das Boot vertäut hatte.
»Sicher, aber hast du eine bessere Idee?«, erwiderte Zamorra.
Es war eine rhetorische Frage. Sie hatten den ganzen Abend darüber diskutiert, wie man ein Wesen bekämpfen sollte, das im Laufe der Jahrtausende zu einem Teil der Landschaft selbst geworden war.
»Die Neun Drachen nannten es Das-Wesen ohne-Kopf-und-Schwanz, weil es nur eine riesige, unförmige Masse ist«, hatte Chin-Li berichtet. »Es hat weder ein Gehirn noch sonst eine Art Zentrum. Wenn man einen Teil davon vernichtet, fällt er einfach ab und wächst an anderer Stelle wieder nach.«
»Deshalb haben ihn unsere Blasterschüsse und das Amulett nicht lange aufgehalten«, sagte Zamorra. »Wie groß ist dieses Wesen?«
Chin-Li zuckte ratlos mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Sehr groß, nehme ich an. Und es wächst immer weiter. Es lebt hauptsächlich am Flussgrund, aber wie ihr gesehen habt, jagt es manchmal auch am benachbarten Ufer. Wie weit es sich ins Land hinaustraut, weiß niemand, aber offenbar fühlt es sich im Wasser sehr viel wohler.«
»Haben die Neun Drachen je versucht, es zu töten?«, fragte Nicole.
Die Chinesin nickte. »Aber sie haben den-Versuch schnell aufgegeben. Da das Wesen sich offenbar damit zufrieden gab, Tote oder tödlich Verletzte zu verschlingen, wandte sich die Bruderschaft bald dringlicheren Gefahren zu.«
»Und ließ zu, dass dieses Etwas da draußen im Laufe der Jahrzehnte immer größer und mächtiger wurde.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es die richtige Entscheidung war«, sagte Chin-Li kühl.
»Und wir haben nicht die geringste Ahnung, ob diese Wunderwaffe«, Zamorra deutete auf die Pergamentrolle, die Chin-Li aus der Bibliothek der Neun Drachen mitgebracht hatte, »überhaupt funktioniert.«
»Nein, haben wir nicht.«
Zamorra griente. »Na bestens, dann kann ja gar nichts schief gehen.«
Jetzt, am frühen Morgen, kam dem Dämonenjäger der Plan, den sie gemeinsam ausgeheckt hatten, ebenso absurd vor wie Nicole. Aber sie wussten beide, dass es keine Alternative gab. Sie hatten Phuong bedrängt, sich vorher von ihnen in sicheres Gebiet bringen zu lassen, aber das hatte die tapfere Vietnamesin entschieden angelehnt. »Sie brauchen jemanden, der sich hier auskennt!«
»Wir haben Yau.«
»Ja, aber er ist nicht hier aufgewachsen.«
Damit war die Diskussion beendet.
Es herrschte eine beklommene Stille, als sie alle gemeinsam in dem kleinen Boot saßen. Jeder dachte an das Grauen, das möglicherweise direkt unter ihnen lauerte. Das allgegenwärtige Gefühl der Bedrohung stand im krassen Gegensatz zur Schönheit des Tages. Die graue Wolkendecke war aufgebrochen und strahlendes Sonnenlicht ergoss sich über das still und friedlich daliegende Delta.
Sie hatten kein konkretes Ziel. Yau lenkte das Boot durch immer kleinere Nebenarme, bis sie eine passende Stelle für die Umsetzung ihres abenteuerlichen Plans gefunden hatten. Hier wohnte oder arbeitete in weitem Umkreis niemand mehr, und der Fluss hatte sich zu einem schmalen Bach verengt. Das Ufer war immer nahe genug, falls sie sich notfalls über Land in Sicherheit bringen mussten.
Chin-Li, Yau Hwei-Kong und Phuong hatten sich mit Macheten bewaffnet, Zamorra und Nicole hielten die Blaster im Anschlag. Merlins Stern hatte der Parapsychologe immer noch abgeschaltet. Sie wollten ihren Gegner nicht vorzeitig auf sich aufmerksam machen.
Doch jetzt war es soweit. Zamorra nickte Chin-Li zu. Ungerührt zog die junge Chinesin die scharfe Klinge ihrer Machete über ihren linken Unterarm. In dicken Tropfen platschte das Blut der schönen Kriegerin ins Wasser. Haifütterung , dachte Zamorra. Dann verschob er wiederum einige
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