0813 - Warten auf den Todesstoß
Wieder spürte er die unsichtbare Peitsche im Nacken.
Der Untergrund veränderte sich. Er federte beim Laufen nicht mehr so ab, denn das Gelände erinnerte ihn mehr an weichen Pudding. Die Laufgeschwindigkeit konnte er nicht mehr halten. Je zäher der Belag wurde, umso mehr Mühe bereitete Vinc das Laufen. Es war keine gute Idee von ihm gewesen zu fliehen, er würde vom Regen in die Traufe geraten und irgendwann versinken.
Noch einmal sah er die Schienen, auf ihnen stand der kantige Gegenstand, den er bereits von der Station her kannte.
Ziemlich erschöpft fiel Vinc gegen die verrostete Kipplore, die noch auf dem Gleis stand.
Vinc Conlon grinste scharf, als er daran dachte, in die Lore hineinzuklettern und sich darin zu verstecken. Mit beiden Händen umfasste er den rostigen Rand und zog sich höher. Mit dem Knie stützte er sich ab, darin rollte er über die Kante hinweg und ließ sich an der schrägen Innenwand in das Behältnis hineingleiten.
Eine Wasserpfütze bedeckte den Boden. Zahlreiche Mücken turnten und flogen herum. Auch in dem schmutzigen Wasser krabbelten viele kleine Tiere.
Es war Vinc Conlon egal. Er wollte nur seine Ruhe haben und keine panische Angst mehr verspüren.
Die Beine zog er an, den Kopf drückte er nach hinten. Mit dem Rücken presste er sich gegen die Schräge und kam nicht dazu, die ihn umgebende Stille zu genießen, denn sein Herz pumpte wie verrückt. Jeder Schlag schien ihm erneut den Schweiß aus dem Körper zu treiben. Dabei hatte er lauschen und schauen wollen, daran war jetzt nicht zu denken.
So blieb er hocken die Augen halb geschlossen, und spürte das Zucken seiner Lider.
Den lautlos heranwallenden Dunst bemerkte er nicht, der die Lore sehr bald wie ein Leichentuch umgab.
Und aus dem Leichentuch schälte sich etwas hervor. Noch außerhalb der Lore, für Vinc nicht sichtbar, bis er das Kratzen hörte. Siedend heiß schoss die Erinnerung in ihm hoch.
Das gleiche Geräusch wie in seinem Zimmer in der Kaserne, als er in der Dunkelheit gehockt hatte.
Sie war da.
Sie hatte ihn gefunden!
Wenn es lautlose Schreie gab, so tobten sie durch seinen Körper.
Er öffnete die Augen. Für einen Moment sah er den wolkenverhangenen Himmel über sich, dann aber schob sich das Gesicht mit den schwarzen Haaren dazwischen.
Sie war da!
Und sie hatte das Messer!
Sie grinste auf ihn nieder. Es war ein Lächeln, das die Bezeichnung tödlich verdiente. In den Augen entdeckte er nicht das geringste Gefühl. Kälte und Mordlust spiegelten sich in dem Messer in ihrer Hand.
»Dich muss ich noch haben…«
Auch so konnte ein Todesurteil gesprochen werden. Lorna, die Leichen-Lady, kannte kein Pardon, und Vinc suchte nach einem Ausweg. Er drückte sich so weit wie möglich zurück.
Sie stieß zu.
Er schrie auf.
Seine Hand blutete plötzlich. In der folgenden Sekunde ließ sie sich fallen.
Mit ihr das Messer.
Lorna war wie von Sinnen.
Der Sergeant glaubte es nicht. Es war einfach unmöglich, er konnte es nicht fassen, das war Wahnsinn.
Das Messer blitzte. Immer wieder war die Klinge wie ein nach unten fahrender Todesstrahl, und aus ihrem Keuchen formulierten sich die schlimmen Worte.
»Er ist der Fuchs… er ist der Fuchs … er ist der Fuchs …«
***
Ich hatte den alten Bahnsteig wieder erreicht und hielt Ausschau nach Vinc Conlon.
Er war nicht da.
Ich rief seinen Namen.
Nur der Wind blies mir die Antwort ins Gesicht. Er hatte keine Stimme, er flüsterte nicht, und doch war er in der Lage, eine Antwort zu geben, denn der Geruch nach Fäulnis und Moder hatte sich intensiviert. Vom Sumpf her wehte er mir wie ein Schleier entgegen, als wollte er meinen eigenen Atem zurückdrücken.
Kein gutes Zeichen!
Meine Suche galt nicht nur Vinc Conlon, sondern auch Lorna. Sie war nicht zu sehen. Auf dem Dach turnte sie auch nicht herum, und ich erinnerte mich daran, wie unwahrscheinlich schnell sie sich bewegen konnte.
Das war nicht mehr menschlich.
Das war schon…
Ich wollte nicht darüber nachdenken, konnte es jedoch nicht verhindern, dass sich gewisse Dinge in mir zusammenbrauten und zu einem schrecklichen Ergebnis führten.
Es war so still – totenstill…
Hatte der Tod zugeschlagen?
Hatte er Vinc Conlon getroffen?
Ich hoffte es nicht. Wenn ja, dann würden die Vorwürfe bei mir kaum aufhören. Ich hätte ihn besser im Auge behalten müssen, auf ihn achten wie der Vater auf sein Kind.
Jetzt aber…
Die Stille verschwand. Ein seltsames Geräusch durchbrach sie. Etwas
Weitere Kostenlose Bücher