0814 - Mister Amok
Gesicht. Ein Hitzestau lag hinter ihrer Haut und schien sie in Flammen setzen zu wollen. Fieberschauer überfielen Amy. Sie presste ihre Hände gegen das Gesicht, wollte aufstehen und zum Waschbecken laufen, aber die Hitzewelle zog sich zurück.
Was blieb, war etwas Neues.
Etwas Furchtbares.
Ein Gesicht am Fenster.
Das Gesicht der Frau!
***
Ja, ja, ja – Amy erinnerte sich sofort. Plötzlich stand die Szene wieder klar vor ihren Augen. Sie sah sich selbst auf der regennassen Straße liegen, umtost von Stürmen, gepeitscht von Regenschauern, völlig durchnässt und aufgelöst.
Dann war sie gekommen.
Geschwebt, wie aus dem Nichts erschienen. Sie hatte sich über Amy gebeugt und ihr zu verstehen gegeben, dass alles überhaupt nicht schlimm werden würde. Die Geburt ihrer Söhne, die Wehen, die damit verbundenen Schmerzen, das würde alles in den Hintergrund treten, und es war auch in den Hintergrund getreten.
Amy sah nur das Gesicht.
Es war tatsächlich vorhanden, hinter der Scheibe malte es sich ab, obwohl es darum herum dämmrig war. Sehr genau konnte sie es erkennen, und plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie im zweiten Stock des Krankenhauses lag.
Es war unmöglich, dass sich jemand hinter der Scheibe aufhielt. Es sei denn, er stand auf einer hohen Leiter und war bis an dieses Fenster geklettert.
Hatte die Frau das getan?
Sie wollte es nicht glauben. Amy ging von einer unheimlichen Erscheinungaus, einem Geist oder etwas Ähnlichem. Wieder einmal war diese Person als Botin erschienen, aber sie würde ihr nicht mehr bei einer Geburt helfen, diesmal hatte sie etwas anderes vor.
Auch jetzt war Amy das Gesicht unbekannt. Sie wusste nicht mal, ob die Frau jung oder alt war. Auf eine gewisse Art und Weise wirkte sie alterslos, wie jemand, der schon Jahrhunderte gelebt und sich nicht verändert hatte.
Vor dem dunklen Hintergrund der Nacht sah das Gesicht heller aus. Mausgrau bis bleich, und selbst die Lippen hatten diesen Farbton angenommen. Die Haare stachen ebenfalls kaum ab. Es konnte durchaus sein, dass sie eine Spur dunkler als das Gesicht waren, aber das war überhaupt nicht wichtig.
Nur die Person zählte.
Ein Wesen, aber auch ein Mensch?
Das Gesicht lächelte. Hämisch, höhnisch, vielleicht nett? Amy Lester las nichts daraus. Ihr Verstand war blockiert. Im Moment gab es nur das Gefühl.
Sie schluckte. Die Luft schmeckte plötzlich anders. Aschig, alt und verbraucht.
Etwas anderes war durch ein offenes Fenster gedrungen, aber die Frau selbst war geblieben, sie hatte nur ihre Aura geschickt.
Wer war sie? Wie hieß sie?
Amy wollte es erfahren. Sie versuchte auch, sich zusammenzureißen und den Namen zu flüstern, allein ihr fehlte die Kraft. Sie konnte es einfach nicht schaffen.
Nach einer Weile des Verzweifelns hörte sie zum ersten Mal nach dem Erscheinen die Stimme der Unbekannten. »Kennst du mich noch?«
Amy lauschte, kramte in der Erinnerung. Als sie auf der nassen Fahrbahn gelegen hatte, war sie angesprochen worden, nur an den Klang der Stimme hatte sie sich nicht mehr erinnern können. In diese verregnete Einöde war sie mit ihren Schmerzen regelrecht hineingesegelt.
»Kennst du mich noch?«
Abermals erklang diese Suggestivfrage. Diesmal hatte sich ihr Klang verändert. Amy konnte nicht mal sagen, aus welcher Richtung sie gedrungen war. Obwohl das Gesicht hinter dem Fenster lauerte, war die Stimme überall. Jeden Winkel füllte sie aus, als wollte sie Amy begreiflich machen, dass sie die Herrscherin war und niemand neben sich duldete.
Amys Augen schmerzten an den Rändern. Sie hatte sie zu hastig gerollt und bewegt. Aber auch das Gesicht bewegte sich. Zuerst zitterte es, dann drang es um eine Winzigkeit vor und hätte sich jetzt von außen her gegen die Scheibe pressen müssen, was nicht geschah. Amy kam es vor, als wäre das Gesicht der Fremden eins mit der Scheibe geworden. Die Züge schwammen wie in einer mit Gelee gefüllten Umgebung, wobei sie trotzdem ihre Klarheit nicht verloren hatte.
»Ja, ich kenne dich.«
Endlich, dachte Amy. Endlich habe ich reden können. Sie war verzweifelt.
»Schön, sehr schön. Erinnerst du dich denn?«
Die Kranke deutete ein Nicken an.
»Erinnerst du dich auch an den Unfall?«
»Ja.«
»An den Regen?«
»Auch.«
»An die Straße, die so nass und glatt war…?«
Amy presste die Lippen zusammen. Sie wollte nichts mehr sagen.
Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihr nicht gefiel.
Da war ihr jedes Wort zu schade. Sie
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