0814 - Mister Amok
rede!«
»Und du willst es wirklich?«
»Ja, ich… ich möchte Klarheit haben. Ich will es, ich habe lange genug gelitten.«
Die Unbekannte versuchte, traurig zu sprechen, was ihr nicht so recht gelang. »Ich verstehe deine Probleme, mein Täubchen, und deshalb werde ich dich auch von ihnen befreien. Du solltest wirklich nicht länger leiden, das möchte ich nicht.«
Lüge, alles Lüge, dachte Amy Lester. Aber sie stellte fest, dass sich die Frau hinter dem Fenster bewegte. Sie drehte sich zur Seite. Amy konnte ihr Profil erkennen.
Wenn sie eine Hexe war, so entsprach sie nicht den landläufigen Vorstellungen einer derartigen Person. Weder hatte sie einen Höcker, noch war ihre Nase krumm, und eine Warze darauf hatte sie auch nicht. Sie sah eigentlich normal aus, möglicherweise war ihr Profil ein wenig flach, aber das machte nichts. Sie hielt den Kopf etwas gesenkt, das Gesicht nach unten gedrückt, die Arme gestreckt.
Als sie diese wieder anhob, da bewegte sie ihren gesamten Körper.
Von unten her tauchte etwas in das Blickfeld der Amy Lester ein. Sie wusste noch nicht, was die andere da hervorholte, aber in Amy stieg die Spannung.
Es hatte etwas mit ihr zu tun, mit ihr persönlich, da gab es keine andere Möglichkeit.
Die Unbekannte drehte sich. Wieder zeigte sie sich von vorn. Diesmal aber nicht allein. Sie hielt etwas hoch.
Es war ein Lebewesen, das mit den kleinen Beinen strampelte. Es war ein Kind, und es glich dem kleinen Jake aufs Haar.
Es war Jory!
***
Was Amy Lester in diesen und den folgenden Sekunden fühlte, darüber hatte sie in den späteren Jahren oft nachgedacht. Alpträume hatte sie deswegen bekommen. In dieser ersten schrecklichen Konfrontation kam sie sich vor wie eine Scheintote.
Sie war tot und lebte trotzdem.
Bewegungslos, völlig geschockt. Es gab weder Herz- noch Pulsschlag bei ihr, es war nur dieses unbeschreibliche Bild vor ihren Augen, das sie so fertig machte und zu einer Person werden ließ, die in diesen Momenten kein richtiger Mensch mehr war.
Die andere hielt das Kind fest.
Es schwebte vor dem Fenster, gehalten von zwei Händen, und bewegte seine einzelnen Glieder wie ein winziger Turner. Ob es jammerte oder weinte, konnte Amy nicht hören, jedenfalls stand der kleine, zahnlose Mund weit offen.
Wie lange die unnatürliche Starre bei der im Bett liegenden Frau anhielt, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls war ihr das Gefühl für Zeit völlig verloren gegangen, aber irgendwann war der Trieb, Atem zu holen, einfach stärker.
Bevor ihr Kopf platzte, atmete sie durch. Es ging ihr körperlich besser, nachdem sie mehrere Male Luft geholt hatte, aber der seelische Druck und die Furcht waren nach wie vor da.
Du musst dich zusammenreißen. Du darfst um Himmels willen nicht die Nerven verlieren. Die andere will nur deine Panik. Zeig ihr nicht, wie es in dir aussieht…
Am Fenster lächelte die Fremde. Sie hatte den Mund in die Breite gezogen, die Stirn angehoben und in Falten gelegt. Und sie schaffte es, die besorgte Mutter zu spielen. Das Kind wurde in ihren Armen gewiegt, die Frau bereitete ihm Freude. Sie schaukelte es, sie küsste es sogar. Als die Lippen die Wange des Kindes berührten, schluchzte die wahre Mutter auf. Es kam ihr vor, als hätte man ihr selbst einen Kuss gegeben, und ihre eigene Haut schien zu brennen. Sie schloss die Augen. Das innere Feuer schäumte in ihr hoch.
Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein! Da werde ich noch verrückt, das Trugbild, das es nicht gibt. Eine Halluzination. Wenn ich die Augen wieder öffne, komme ich mir vor wie aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht, und alles ist wieder normal.
Etwas kratzte an der Scheibe.
Ein Finger?
Das Geräusch peinigte Amy. Sie öffnete die Augen. Für einen Moment schaute sie hin.
Das Gesicht der Frau.
Mein Gott, es war nicht mehr das Gesicht. Es hatte sich verändert.
Es war zu einer widerlichen Fratze geworden. Nur mehr ein Monstrum, ein gefährliches. Ein Mund mit eitrigen, widerlichen Lippen.
Es war kaum zu fassen.
Und das Kind?
Es hielt beide Arme um die grässliche Fratze geschlungen. Ein Baby, das seine Mutter liebte.
Amy Lester konnte sich nicht mehr zurückhalten.
Sie schrie wie noch nie in ihrem Leben!
***
Gesichter umtanzten sie. Wort- und Satzfragmente drangen an ihre Ohren. Immer wieder wurde sie angesprochen, ohne dass sie richtig zuhörte. Sie hielt die Augen weit offen. Ob sie schrie, wusste sie nicht. Starke Hände hatten sich gegen ihre Schultern gelegt und
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