0817 - Luzifers Tränenbecher
auch zertreten können, doch der Gedanke kam mir nicht.
Wir schauten uns an.
»Okay«, sagte ich, »reden wir wie zwei vernünftige Menschen miteinander. Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind Sie Isabell Munro.«
»Das stimmt.«
»Und in Ihrem Besitz befindet sich Luzifers Tränenbecher. Davon gehe ich auch einmal aus.«
»Ja, ich habe ihn.«
Ich deutete auf die vor mir liegende Träne. »Sie ist eine davon, denke ich.«
»Ja.«
»Es fehlen sechs.«
»Sie sind gut informiert, John Sinclair!«
Ich hatte mich gut in der Gewalt. Nicht einmal mit den Augenwimpern zuckte ich, als sie meinen Namen aussprach. Ich wusste ja, dass ich in gewissen Kreisen bekannt war, und diese Person gehörte wohl dazu. Ich kannte nur nicht ihr Ziel. Sie besaß den Becher, und ich fragte mich, weshalb sie an den Ort ihrer ersten Untat zurückgekehrt war.
Den Becher suchte ich vergebens, und auch meinen angeblichen Dolch sah ich nicht.
Isabell bewegte sich nicht. Wie dunkle Kirschen lagen ihre Augen in den Höhlen. Sie schaute auf mein Kreuz, das ich als Schutz vor meiner Brust hängen hatte.
Fürchtete sie sich? Nahm sie es als gegeben hin? War sie so stark, dass sie gegen das Kreuz ankämpfen konnte?
»Isabell Munro…« Ich sprach den Namen sehr langsam aus und betonte jede Silbe. »Ich glaube nicht, dass Sie wirklich Isabell Munro sind.«
»Warum nicht?«
»Sie müssen sehr mächtig sein. Sie sind nicht einfach nur hier erschienen, um den Becher an sich zu nehmen. Es gibt andere Gründe, denke ich mir.«
»Welche?«
»Sie verfolgen einen bestimmten Plan.«
»Reden Sie weiter, Sinclair.«
»Es ist ein gewaltiger Plan, der möglicherweise bereits zu Beginn der Zeiten entstand. Ein Plan, der mit dem Verteilungs-Mythos der Kräfte zu tun hat. Luzifer verschwand in den Tiefen der Verdammnis, doch er zeigte Gefühle. Er hat gekämpft, er hat alles erreichen wollen und hat letztendlich alles verloren. Es war bitter für ihn. Und deshalb weinte er die bitteren Tränen der Trauer. Seine Gefolgschaft sah es, sie wollte ihren König nicht weinen sehen, sie wollte seine Niederlage nicht, und sie setzte alles daran, um die Tränen ihres Herrschers aufzufangen. Habe ich Recht?«
»Du kennst dich in der Mythologie ausgezeichnet aus.«
»Das muss man wohl.«
»Und weiter?«
»Ich habe in letzter Zeit erleben können, dass die tiefe Vergangenheit, die rechnerisch kaum zu erfassen ist, doch immer wieder hochkommt und jedes Mal ein wenig stärker ist. Urkräfte sind dabei, an unseren Grundfesten zu rütteln. Sie wollen die Welt in ihre Gewalt bringen, sie wollen dafür sorgen, dass die archaischen Zeiten wieder zurückkehren, und sie wollen sich die neue Welt Untertan machen. Es sind die Kreaturen der Finsternis aufgestiegen, die ersten Dämonen. Es sind Geschöpfe, die unter Luzifers Kontrolle stehen, die ihre wahren Gesichter verstecken, aber sehr viel Macht haben. Sie überlebten, sie wollen Finsternis über die Erde bringen, was nicht nur ich weiß, sondern auch anderen bekannt ist. Und natürlich werden sie auch versuchen, diejenigen Trophäen in ihren Besitz zu bringen, die unmittelbar mit ihrem Herrscher in Verbindung stehen, eben mit Luzifer.«
»Zählst du mich dazu?«
»Ich bin mir nicht sicher. Nein, ich kann es beinahe nicht glauben, dass du dazugehörst. Es wäre zu simpel, wenn du verstehst. Ich glaube fest daran, dass die Dinge komplizierter liegen. Du hast die Macht gehabt, Luzifers Tränenbecher an dich zu nehmen. Vor meinen Füßen liegt eine Träne. Ich kann mich bücken und sie aufheben, sie…«
»Tu es, Sinclair!«
Ich war überrascht und zeigte dies auch. »Habe ich recht verstanden, dass ich die Träne aufheben soll?«
»Ich wäre dafür.«
»Und dann?«
»Wirst du sehen, was geschieht.«
Verflixt noch mal, sie hatte mich in eine Zwickmühle gebracht.
Sollte ich, sollte ich nicht? Es war nur eine einfache Bewegung, die der eines Kindes glich, wenn es eine Murmel aufhebt. Dennoch schreckte ich davor zurück. Eine innere Stimme warnte mich. Allerdings nicht so stark, als dass ich mich zu einem Rückzieher entschlossen hätte. Nein, hier musste noch etwas anderes geschehen.
»Traust du dich nicht?«
»Ich denke nur nach.«
Isabell Munro blieb gelassen. »Du bist John Sinclair und auch nicht unbekannt. Ich weiß, dass du nicht aus freien Stücken hier bist. Du hast dich vor den Karren des Asmodis spannen lassen. Ein Fehler, denke ich.«
»Pardon, aber das habe ich nicht getan. Ich würde mit ihm
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