0829 - Der Alpen-Teufel
sehr genau, wer dieser Paul ist oder gewesen war. Ein Selbstmörder, einer, den keiner mochte, der sich in der Nacht versteckt und unheilvolle Dinge trieb.«
»Teuflische.«
»Meinetwegen auch das. Er ist ein Veränderter. Er ist in einen Bann hineingeraten.«
Maria Rogner wurde leichenblaß. »Dann muß er aus seinem Grab gestiegen sein, wenn du recht hast.«
»Hör auf, Mutter! Die Toten bleiben in den Gräbern. Sie steigen nicht mehr empor!«
»Ja, wir wollen es hoffen«, murmelte die alte Frau, senkte den Kopf, wobei sie auf ihre schon gefalteten Hände schaute. Sie betete. Ihr Mund blieb dabei stumm, und nur die Lippen bewegten sich. Nicht einmal ein Zischen drang hervor.
Bert Rogner stand auf. Es drängte ihn wieder zum Fenster hin. Auch seine Mutter würde ihn davon nicht mehr abhalten können. Sie schaute nicht hin, als ihr Sohn zum Fenster ging.
Bert hatte die Scheibe nicht aus dem Blick gelassen. In ihr spiegelte sich das Licht einiger Kerzen.
Dahinter lauerte die Schwärze. Und draußen bewegte sich auch etwas.
Rogner war irritiert. Er wagte nicht, sich zu rühren. Wie ein Denkmal stand er auf der Stelle. Über seinen Rücken floß eine Gänsehaut. Plötzlich schwitzte er wieder, und in seinem Kopf festigte sich ein einziger Gedanke.
Da draußen ist jemand!
Maria Rogner bemerkte nichts. Sie saß in sich versunken am Tisch und betete. Auch sie wurde aus ihrem fast tranceähnlichen Zustand gerissen, als sie das Klirren hörte.
Splitter regneten in das Zimmer, begleitet von einem Strom kalter Luft.
Mutter und Sohn erstarrten. Sie waren einfach nicht fähig, einen Schrei oder auch nur einen Laut abzugeben, denn zu schrecklich war die Gestalt, die vor dem Fenster stand und in das Zimmer glotzte…
***
Es war der Alpen-Teufel, der fünffache Mörder, die blutgierige Bestie, und er war unterwegs, um endlich wieder seinem Bluttrieb nachzukommen.
Noch immer preßte den Rogners die kalte Angst die Kehle zusammen. Aber sie konnten sehen, sie merkten sich sehr genau, wie dieses verfluchte Wesen aussah. Selbst im Licht der Kerzen waren die Einzelheiten überdeutlich zu erkennen.
Ein Kopf?
Ja, den gab es. Aber es war ein menschlicher? Das wollte keiner von ihnen glauben, obwohl dieses Wesen Ähnlichkeit mit dem Menschen hatte, den sie kannten.
Paul!
Himmel, das war Paul. Der tote Paul, der längst begrabene Paul. Auch wenn er nicht mehr so aussah wie früher, war er doch sehr gut zu erkennen.
Sein Gesicht zeigte noch immer die Rundung. Es war fleischig, die kurze Nase hatte an Dicke gewonnen und sich gleichzeitig noch nach vorn geschoben. Auch der Mund war viel größer. Er glich bereits einem Maul, und das Haar sah aus wie hochgebürstet. Über seiner Haut im Gesicht lag ein Schatten, so jedenfalls sah es für Mutter und Sohn beim ersten Hinsehen aus, aber das stimmte nicht, denn bei näherem Hinsehen erwies sich der Schatten als Pelz oder dünnes, haariges Fell. Es umwuchs auch die Augen und bildete den Flaum auf der Stirn. Augen, vor denen sie ebenfalls Furcht hatten. Zwar sahen sie noch menschlich aus, doch ihrer Meinung nach hatten sie nichts Menschliches mehr an sich. Sie waren kalte, dunkle Lichter, zugleich grell und ebenfalls düster.
Dunkel waren die Pupillen, als wäre schwarzes Wasser zu Eis gefroren. Um sie herum zeichnete sich die Helligkeit ab. Sie war so unnatürlich bleich und weiß, erinnerte tatsächlich an Eiweiß, das ebenfalls gefroren schien.
Die Alpen-Bestie trug als Kleidung einen dunklen Mantel und einen Schal, den sie um ihren Hals gewickelt hatte. So konnte der Hals nicht mehr gesehen werden.
Die Zähne hatte er gefletscht. Das Gebiß schimmerte perlweiß, und die Lippen standen leicht vor, als wären sie dabei, eine Schnauze zu bilden, die es noch nicht ganz geschafft hatte. Auf halbem Weg hatte die Deformation gestoppt.
Beiden kam es vor, als wären lange Minuten vergangen. Dabei waren es nur Sekunden gewesen, in denen sich der Eindruck bei ihnen regelrecht festgefressen hatte.
Unternehmen konnten sie nichts. Sie spürten nur, wie heftig ihre Herzen klopften, und die alte Frau Rogner hatte das Gefühl, vom Stuhl zu fallen und wegzuschweben. Jetzt bewegte sich wieder ihr Mund, ohne daß ein Wort zu hören war.
Die von außen nach innen dringende Kälte schien auch die Zeit eingefroren zu haben. Nichts lief mehr, alles war so schrecklich still, und keiner von ihnen rührte sich, als der Alpen-Teufel seinen Kopf nach vorn drückte, weil er noch tiefer in das Zimmer
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