083 - Das Gasthaus an der Themse
ausweichender und widerstrebender sie antwortete, um so neugieriger wurde er. Er war jedoch in der Technik des Verhörs viel zu erfahren, um weiterzufragen, und als sie wissen wollte, ob er viel zu tun habe, ging er bereitwillig auf das neue Thema ein. Seine seltenen Besuche im »Mekka«-Club litten in der Regel darunter, daß sie fürchtete, Mutter Oaks könne jeden Augenblick auftauchen und sie vor dem Inspektor blamieren, und gewöhnlich betete sie heimlich darum, er möge schnell wieder gehen. Ausgerechnet heute aber brach er wirklich bald auf, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre, und Lila blieb enttäuscht zurück. Doch ihre Enttäuschung verwandelte sich schnell in Erleichterung, als sie nur etwa zehn Minuten später »Mutters« Stimme hörte. Mrs. Oaks war in der Stadt gewesen und hatte einen Gast mitgebracht — den einzigen Mann, den Lila verabscheute. Zum Glück kam Raggit Lane nur sehr selten in den »Mekka«-Club. Er war groß und mager und hatte ein schmales, asketisches Gesicht. Trotzdem hätte er gut ausgesehen, wäre seine Oberlippe nicht auf einer Seite nach oben gezogen gewesen, so daß er ununterbrochen höhnisch zu grinsen schien. Er war immer übertrieben elegant gekleidet, vermied es jedoch, durch Krawattennadeln, Ringe und schwere Uhrketten Reichtum vorzutäuschen, wie das die anderen Stammgäste des Clubs nur allzugern taten. Lila mochte ihn nicht, wegen des Parfüms, das er benutzte, obwohl ihr nie jemand gesagt hatte, daß es der Gipfel des schlechten Geschmacks war, wenn ein Mann sich parfümierte. Mutter Oaks fand das ganz in Ordnung. Raggit Lanes Hände waren stets gut manikürt, sein schwarzes Haar glänzte von Pomade. Das einzige Schmuckstück, das er trug, war ein unauffälliger Siegelring.
Über seinen Beruf hüllte sich Mutter Oaks in Schweigen. Lila glaubte, daß er etwas mit der Seefahrt zu tun hatte, weil er sich einmal herabließ, ihr aus China einen gestickten Schal mitzubringen.
Ein paar Minuten, nachdem Mutter Oaks und ihr Gast gekommen waren, wurde Lila ins Wohnzimmer gerufen. Dieses Wohnzimmer war das Allerheiligste des Hauses, und nur bevorzugte Besucher durften es betreten. Es war ein großer Raum mit zwei hohen, undurchsichtigen Fenstern, farbigen Wänden und Parkettboden. Lila trat ein, während sie sich die Hände noch an ihrer Küchenschürze abtrocknete, und begegnete dem starren Blick von Lanes Glasauge, das sie besonders scharf zu mustern schien.
»Hallo«, sagte er und schaute sie mit unverhohlener Bewunderung an. Er hatte sie ein Jahr nicht gesehen, und in dieser Zeit hatte sie sich auffallend verändert. »Sie ist sehr hübsch geworden, Oaks.«
Er nannte Mutter immer nur »Oaks«, und sie ließ es sich widerspruchslos gefallen.
»Laß dich mal ansehen!« Er faßte Lila an den Schultern und drehte sie zum Licht herum. Zorn schoß in ihr hoch, und sie riß sich heftig los.
»Fassen Sie mich nicht an! Wie dürfen Sie es wagen, mich anzufassen!« Mutter Oaks sah sie erstaunt an »Aber Lila ...« begann sie.
»Sie hat recht, entschuldigen Sie, Lila«, sagte Lane. »Ich habe nicht bedacht, daß Sie jetzt erwachsen sind.« Doch Lila schien seine Entschuldigung nicht zu hören, machte auf dem Absatz kehrt und verließ rasch das Zimmer. Zum ersten Mal hatte sie energisch auf ihre Unabhängigkeit gepocht, und Mutter Oaks war sprachlos vor Staunen. »Was ist denn mit der los?« fragte sie schrill. »So habe ich sie ja noch nie erlebt. Sie soll mir bloß nicht hochnäsig werden, sonst kann sie was erleben.«
Lane lachte leise, nahm eine Zigarette aus einem flachen Goldetui und zündete sie an. »Wer ist diese Lila eigentlich?« Mutter Oaks hätte für ihren gutaussehenden Besucher einiges getan, nur diese Frage konnte sie ihm nicht beantworten, es wäre nicht ungefährlich gewesen. »Was mir im Zusammenhang mit Lila Sorgen macht, ist dieser Wade«, sagte sie. »Ständig lungert er hier rum. Ob er hinter dem Mädchen her ist oder andere Gründe hat, ist mir nicht klar. Man weiß ja nie, was so ein Bulle ausheckt.« »Inspektor Wade?« Raggit Lane betastete nachdenklich sein Kinn. »Er ist sehr intelligent, nicht wahr?« Mutter Oaks lächelte spöttisch. »Halten sich nicht alle Bullen für wahre Wunderkinder? Ich habe gehört, die Gummimänner hätten ihn vor ein paar Tagen fast erwischt. Ich wünschte, es wäre ihnen gelungen!« Lane lachte leise. »Die Gummimänner scheinen sehr fleißig zu sein«, sagte er. »Wer sind sie?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich
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