0830 - Das Vampirloch
durchatmete. Er war frei, wieder frei, und er konnte sich ausmalen, wie es jemandem erging, der sehr lange in einer Zelle hatte sitzen müssen.
Sir James bewegte seinen Mund, ohne ihn zu öffnen. Er schmeckte dabei das Blut, aber es rann nicht über seine Zunge, obwohl er seinen eigenen Speichel damit verglich.
Noch immer durchtosten die fremden Gedanken sein Hirn. Es waren klare Befehle, die ihm da zugeschickt wurden. Er mußte sich daran halten und würde den Regeln entsprechen. Niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten, und sein Lächeln wurde hart und kantig, als er durch das Fenster schaute, hinab in das kalte London, über dem ein eisiger Dunst zu liegen schien.
Dann öffnete er den Schrank.
Er holte den grauen Wintermantel hervor und streifte ihn mit gelassenen Bewegungen über. Den Hut vergaß er ebenfalls nicht, rückte ihn zurecht, verzichtete allerdings auf den Schirm, obwohl erste Schneeflocken aus den Wolken fielen. Die schwarzen Lederhandschuhe streifte er ebenfalls über, war mit sich zufrieden und verließ sein Büro.
Mit dem Lift fuhr er wieder nach unten.
In der Halle wurde er gegrüßt. Manchmal mit seinem Namen, von weiter entfernt stehenden Personen mit einem Nicken. Es war alles normal, und auf seinen Lippen hatte sich ein wohlwollendes Lächeln ausgebreitet. Verändert sah er nicht aus, aber die Veränderung in seinen Gedanken war geblieben.
Er dachte an das Blut. Er wollte hin. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Die Botschaft hatte er sehr gut verstanden, denn Sir James freute sich auf das, was ihn erwartete, obgleich er nicht wußte, was es überhaupt war.
Dann verließ er das Yard Building und trat hinaus in die knackige Kälte.
Selten war sie so früh gekommen. Der November war noch nicht vorbei, aber halb Europa lag schon jetzt unter einer eisigen Decke.
Ein Taxi hatte er schnell gefunden, und die Adresse war ihm ebenfalls bekannt.
Der Fahrer nickte nur gleichgültig, als er sie hörte. Dann gab er Gas und fuhr an.
***
Zuerst dachte ich, einer Halluzination erlegen zu sein, denn das durfte doch nicht wahr sein. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, zuckte zurück, ließ zwei Sekunden verstreichen, beugte mich dann wieder vor und konnte um die Ecke schauen.
Es stimmte.
Der Mann, der mit kleinen, etwas unschlüssig wirkenden Schritten auf die rot gestrichene Eingangstür des Vampirlochs zuging, war tatsächlich unser Chef Sir James. Er hatte es verstanden, der Zelle zu entfliehen, und ich mußte ihm schon ein Kompliment machen, denn er war raffinierter, als ich angenommen hatte.
Da konnte man nur den Kopf schütteln, aber dazu war ich nicht hergekommen. Ich mußte etwas tun und entsprechend handeln.
Suko eilte auf mein Winken hin heran. Ich drückte ihn mit einem schnellen Griff gegen die Hauswand, schaute in sein überraschtes Gesicht mit den großen Augen und zischte nur: »Sir James!«
»Wie?«
»Er ist hier!«
Suko sagte nichts, löste sich von der Wand und schaute ebenso vorsichtig um die Ecke.
Er sah ihn, stöhnte auf, schüttelte den Kopf, aber eine Frage stellte er nicht, denn ich kam ihm mit meiner Bemerkung zuvor. »Jetzt werden wir hineinkommen, Suko.«
»Wie denn?«
»Mit ihm zusammen. Ich bin fest davon überzeugt, daß man ihm die Tür öffnen wird.«
»Da kannst du recht haben.«
Noch mußten wir uns zurückhalten. Unsere Aktivitäten richteten sich nach denen des Superintendents. Wenn er entsprechend handelte, konnten auch wir eingreifen.
Noch hatte er die Tür nicht erreicht. In unterschiedlicher Höhe schauten wir um die Hausecke. Als kompakte Gestalt stand er einige Schritte vom Eingang entfernt. Er war allein, auch aus der Nachbarschaft ließ sich kein Mensch blicken. Es mochte auch an der Kälte liegen und an den winzigen Schneeflocken, die aus den Wolken rieselten und das weiße Leichentuch immer mehr verdichteten.
»Der soll doch gehen«, murmelte ich. »Er ist unsicher, John.«
Suko hatte recht. Ich war etwas ungeduldig geworden, denn ich wollte einfach, daß es in diesem Fall voranging. Mein Herzschlag war überdeutlich zu spüren. Die Kälte kroch auch in meinem Innern hoch, und ich atmete erst auf, als sich Sir James dem Ziel nun ohne Unterbrechung näherte.
Er schaute glücklicherweise nicht nach links oder rechts, allein die rote Eingangstür interessierte ihn, und vor ihr blieb er stehen. Für ihn war keine Schelle angebracht worden, ihm erging es ebenso wie uns, und wir waren gespannt, wann sich die Tür öffnete und wie der
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