0843 - Tunnel der hungrigen Leichen
Bäume hatten noch kein frisches Grün bekommen.
Nichts engte Erics Sicht auf die Hausfassaden ein, er sah die unterschiedlichen Fronten mit den unterschiedlichen Giebeln, den Fenstern, den Erkern.
Er drehte sich um, und sein Blick glitt über das Wasser der Gracht. Es lag sehr ruhig da. Der Wind kräuselte die Oberfläche nur leicht. Um diese Zeit fuhren keine Touristenboote, die würden erst gegen Mittag hier auftauchen, zu dieser Morgenstunde gehörten die Grachten den wenigen Einheimischen, die schon unterwegs waren. Zumeist Händlern und Fahrern, die irgendwelche Waren brachten, aber auch Bauarbeitern, die an den alten Häusern immer etwas auszubessern hatten.
Das Wasser zeigte eine bräunliche Farbe. Hin und wieder mischte sich auch ein schmutziggrauer Farbton dort hinein, insgesamt wirklich kein Kanal, um darin ein Bad zu nehmen. Freiwillig würden Eric und seine Freunde nicht hineinspringen.
Sie warteten auf den Frühling, der Winter konnte ihnen gestohlen bleiben, denn in der warmen Jahreszeit würden sie wieder auf einem der zahlreichen Flohmärkte stehen und irgendwelchen Krempel verkaufen, über den sich Touristen aus aller Welt so freuten. Wenn man die richtigen Spezialisten kannte, die neue Sachen auf alt trimmten, ließen sich gute Geschäfte machen, und man konnte sogar in der schlechten Zeit - im Winter - einigermaßen über die Runden kommen.
Eric gefiel der Geschmack in seinem Mund nicht. Er spie aus und wollte sich abwenden, um das Boot zu verlassen, als ihm etwas auffiel.
Nicht weit von der Bordwand entfernt lag in der Tiefe ein Gegenstand. Er sah aus wie ein Stück Holz, das sich nicht entscheiden konnte, ob es nun an der Oberfläche bleiben oder lieber dem Grund entgegensinken sollte. Der nahe Fluß hatte den Gegenstand in die Gracht hineingedrückt, und es hatte auch die Halbbogenbrücke passiert, um in direkter Linie auf den Kahn zuzugleiten.
War er wirklich ein Stück Holz?
Eric war da skeptisch. Den Gedanken an das Frühstück hatte er vergessen. Die Neugierde siegte bei ihm. Er drehte sich um und hob die lange Stange an. An ihrem Ende befand sich ein Enterhaken, der aussah wie die Hälfte eines Fragezeichens.
Schon oft hatten er und seine Freunde mit diesem Haken irgendwelches Treibgut aus der Gracht geholt, und das würde auch jetzt geschehen, denn darin hatte er Routine.
Der fünfundzwanzigjährige Mann mit den fahlblonden Haaren, die im Nacken einen Zopf bildeten, wartete, bis das Treibgut nahe genug an die Bordwand herangeschaukelt war.
Erst dann stieß er die Stange mit dem Enterhaken in die schmutzige Brühe hinein.
Das krumme Metall packte. Es griff direkt in den Rücken des Holzstücks hinein.
Eric zerrte den Fund herum. Er sah, wie er sich im Wasser liegend drehte - und das Erschrecken war dermaßen groß, daß ihm die Stange beinahe aus den Händen gerutscht wäre.
Was er da aus dem Wasser hatte fischen wollen, war alles andere als ein langes Stück Holz. An der Krümmung der Enterstange hing eine schrecklich zugerichtete Leiche, wie man sie sonst nur in diesen fürchterlichen Horror-Videos zu sehen bekam.
Ein Auge war noch vorhanden. Das zweite nicht mehr. Und dieses eine Auge starrte Eric an wie der Tod persönlich…
***
Ein Toter lag in meinem Zimmer!
Ich wußte nicht, wer ihn auf den Teppich gelegt hatte und wie er überhaupt in meine Wohnung gelangt war, aber dieser Tote war keine Einbildung und auch keine Geisterscheinung, das stellte ich rasch fest, als ich neben ihm stehenblieb und ihn mit der rechten Fußspitze antippte. Er war existent.
Nun ist Leiche nicht gleich Leiche.
Es gibt sogar Leichen, die gut aussehen, wenn Fachleute sie geschminkt haben. Bei diesem Toten war das nicht der Fall. Überhaupt konnte ich ihn nicht als einen normalen Toten ansehen, denn was man mir da auf den Teppich gelegt hatte, sah aus… ja, wie sah dieser Tote überhaupt aus?
Jedenfalls nicht normal. Seine Haut schimmerte bräunlich bis dunkel. Mir kam es vor, als wäre er ein Teil eines Astwerks gewesen, denn Beine und Arme hatten genau diese knorpelige Dünne. Sie waren an gewissen Stellen eingeknickt, so daß mir der Tote vorkam wie ein schon halb vertrockneter Körper, der vergessen worden war. Ich konzentrierte mich auf den Kopf.
Der Schädel zeigte starke Anzeichen von Verwesung, obwohl sich die Haut noch wie dünnes Leder über die Knochen spannte. Was die Farbe anging, sahen zahlreiche Handtaschen so aus. Im offenen Maul wuchsen blockige Stümpfe. Die Stirn war
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