0846 - Im Namen des Leibhaftigen
geschiedener Mann ihr gelassen. Mit seiner neuen Freundin hatte er ein anderes Leben irgendwo im Süden beginnen wollen. Sollte er, sie trauerte ihm nicht nach.
Die Vorhänge waren neu und zeigten ein Blumenmuster. Sie reichten bis zum Boden. Das alte Parkett glänzte, denn Ginger sorgte stets für eine gute Pflege.
Für einige Minuten blieb sie vor dem geschlossenen Fenster stehen und schaute nach draußen.
Der Central Park lag praktisch vor ihr. Er war die grüne Lunge der Riesenstadt, die allerdings zwei Seiten aufzuweisen hatte.
Tagsüber bewegten sich Sportler, Familien und Müßiggänger durch den Park. In der Nacht aber konnte er zur Hölle werden, wenn sich lichtscheues Gesindel herumtrieb, und mehr als einmal hatte Ginger die Schreie aus dem Park gehört.
Sie öffnete das Fenster.
Der noch kalte Märzwind ließ sie frösteln. Auch die dunkle Fläche vor ihr war nicht ruhig. Irgendwo brodelte es immer, und gerade dieses Brodeln wurde auch an ihre Ohren getragen. Sie schaffte es nicht, die einzelnen Geräusche zu unterscheiden, doch bei Nordwind wurden sie von der hinter den Häusern entlangführenden Straße bis über die Dächer hinweggetragen. Da bildete dann das Summen der Autoreifen auf dem Asphalt zusammen mit den unterschiedlichen Huptönen eine akustische Kulisse, an die sich die Mieter des Hauses erst gewöhnen mußten.
Dieses Haus war toll.
Fast so alt wie das Jahrhundert stand es da, als wollte es den Park überwachen. Dabei war es nicht einmal hoch. Gerade mal drei Stockwerke plus Dachgeschoß, mehr nicht.
Die Wohnungen waren schon vor Jahren von den Mietern gekauft worden, zum Glück, denn mittlerweile waren die Preise wahnsinnig gestiegen.
Ginger Hayden hatte sich immer glücklich geschätzt, hier zu wohnen. Das würde auch sicherlich wieder so werden, aber erst, nachdem der Killer gestellt worden war.
Der Killer!
Da war es wieder, dieses verdammte Wort, das sich in ihrem Kopf festhakte.
Killer, Mörder - das bedeutete Täter und Opfer.
Sie schüttelte sich, als sie daran dachte. Plötzlich kam ihr die Luft noch kälter vor, als befände sich in ihr bereits der Hauch des Bösen oder der Atem des Leibhaftigen.
Auch diesen Namen hatte sie nicht vergessen. Ginger fühlte, wie sie schwankte. Sie klammerte sich an der Fensterbank fest, der Wind spielte mit ihrem Haar, sie starrte nach vorn, wo es dunkel war.
Das Licht der Außenlaternen bemerkte sie nicht. Ginger interessierte nur die Finsternis der Nacht, obwohl sie sich davor fürchtete. Gleichzeitig hatte diese Dunkelheit einen eigenen Reiz, eine Mischung aus Schutz und Gefahr, die gut als Deckung fungieren konnte.
War er da?
Der Park gab ihm Schutz. Er lag vor ihr wie ein Wall. Oder wie ein finsterer Himmel, der auf die Erde gefallen war, wobei er nur wenige Sterne mitgenommen hatte, denn so und nicht anders schätzte sie die Lichter ein, die, mal höher, dann wieder tiefer in der Dunkelheit schwebten.
Ginger hatte vergessen, auf die Uhr zu schauen. Sie ging davon aus, daß die Tageswende noch zwei Stunden entfernt war, und gerade vor dieser Zeit fürchtete sie sich.
Als Kind hatte man ihr immer von der Geisterstunde berichtet, da waren ihr dann auch die alten Märchen in den Sinn gekommen, die manchmal so grausam waren.
Sie schloß das Fenster.
Sie drehte den Griff, der abschließbar war. Trotz allem war sie nicht zufrieden. Wer in die Wohnung gelangen wollte, der schaffte es, aber dieser Einbruch würde nicht lautlos über die Bühne gehen, darauf hoffte Ginger.
Sie rief eine Freundin an.
»Hi, Ginger, was ist los?«
»Ach, nichts, nur so.«
»Stimmt nicht.«
»Wieso?«
»Ich höre es dir an.«
»Was hörst du denn?«
»Du klingst so bedrückt. Und dein Anruf bei mir kommt mir vor wie ein schwach unterdrückter Hilfeschrei.«
»Kann sein, Kitty.«
»Wo liegt das Problem?«
»Ich habe Angst.«
Kitty schwieg. »Gibt es dafür einen besonderen Grund? Ich meine, einen realen. Wirst du bedroht?«
»Nein, nicht direkt.«
»Aber…?«
Ginger zeichnete Kreise auf den Tisch. »Das ist schwer zu sagen, Kitty, wirklich…«
»Würde es dir helfen, wenn ich komme?«
Ginger lächelte, obwohl die Freundin es nicht sehen konnte. Aber sie hatte ihre Gedanken erraten, und Gingers Antwort klang erleichtert. »Ja, Kitty, ich will ehrlich sein - ja.«
»Okay, ich habe nichts vor.«
»Keinen Lover?«
»Vergiß es, Ginger. Der letzte wollte sich nur in ein gemachtes Nest setzen und sich ausruhen. Ich sollte für ihn arbeiten.
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