0855 - Kalis Würgertruppe
hervor. Es rutschte aus dem Hemdausschnitt hervor, dann streifte ich die Kette ebenso langsam über den Kopf, beobachtet von den flackernden Augen des Inders.
Auf der Hand blieb mein Kreuz liegen. »Kennst du es?« fragte ich ihn.
Er schwieg, schaute es auch nicht an, sondern drehte den Kopf um eine Idee zur Seite.
»Sieh hin!«
Er tat es nicht.
Dafür warf ich einen Blick darauf. Die Heilige Silbe Indien war dicht neben dem R für Raphael eingraviert worden. Sie bestand aus den Buchstaben A, U und M, oder OM. Es war die dreibuchstabige Einheit, eine mystische Silbe, das heilige aller Wörter Indiens. Sie konnte ein Segen, aber auch ein Fluch sein, es kam immer darauf an, gegen wen sie gesprochen wurde. Dieses Wort stand oft am Anfang oder den Gebeten der Inder. Nach unbestätigten Deutungen sollte es zusammengesetzt sein aus den Anfangsbuchstaben der drei Götter Agni, Uaruna und Marut, und die Silbe sollte auch gleichzeitig die drei Elemente Feuer, Wasser und Luft symbolisieren. Man konnte sie nicht nur einfach aussprechen, es erforderte schon eine besondere Technik, sie mußte laut und in derselben Tonhöhe wiederholt werden, und ich hoffte, daß ich es noch schaffte.
Noch war es nicht soweit. Vor mir hockte der Diener Kalis und starrte das Kreuz an. Ob er die Silbe schon entdeckt hatte, war ihm nicht anzusehen, ich ging allerdings davon aus.
Um es noch deutlicher zu machen, brachte ich die linke Hand über die rechte Handfläche, winkelte den Zeigefinger an und tippte auf das eingravierte R, um den Inder in diese Suchrichtung zu bringen.
»Du kennst sie?«
Er schwitzte. Er hatte den Kopf jetzt gedreht, weil er damit nichts zu tun haben wollte.
»Soll ich es dir erklären?«
Durch seinen Lippenspalt drang ein wütender Fluch. Im nächsten Augenblick schnellte er hoch, dabei war es ihm egal, ob die Handschellen seine Gelenke hielten. Der Kopf kippte um, der Mann selbst rannte von Panik getrieben zur Tür, die nicht geschlossen war. Mit der linken Schulter rammte er sie noch weiter auf und huschte in den Flur.
Suko hatte sofort die Verfolgung aufgenommen. Carol, Shao und ich blieben im Zimmer zurück. Ich konnte mich auf meinen Freund verlassen. Wir sahen nichts, aber wir hörten die dumpfen Geräusche und auch das wilde Schreien.
Kurz darauf erschienen beide. Suko hatte den kleineren Inder am Kragen gepackt. Er stieß ihn vor sich her, und der Mann sah aus wie ein keuchendes Bündel auf zwei Beinen.
»Er war nicht schnell genug!« stellte mein Freund fest, als er ihn wieder auf den Stuhl drückte. Diesmal allerdings hielt er ihn fest, mit einem Griff wie der Bauer das Karnickel im Nacken anfaßt. »Etwas muß ihn gestört haben. Kann sein, daß er sich an gewisse Dinge erinnert hat, als er das Kreuz sah. Ich denke, daß er auch unsere Sprache versteht.« Suko hatte bisher mehr allgemein gesprochen, jetzt wandte er sich direkt an den Inder und schüttelte ihn durch.
»Nicht wahr, mein Freund? Es ist doch so gewesen. Und dabei hast du jemand töten wollen. Du und deine Kumpane, ihr wärt zu Mördern geworden, einfach so. Vier Personen gegen eine Frau. Ihr hättet ihr keine Chance gelassen, nicht die geringste, und jetzt spielst du den noch immer Verstockten. Das wollen wir nicht hinnehmen. Wir wissen einiges über eure Todesgöttin. Kali mag über einen langen Arm verfügen, aber hier sitzen wir am längeren Hebel.« Suko ließ den Mann los, der in sich zusammensackte, aber auf dem Stuhl sitzen blieb und dabei den Eindruck erweckte, als hätte er endgültig aufgegeben, wovon ich persönlich noch nicht überzeugt war.
Zudem hatte sich mich über Suko gewundert. Eine derartig lange Rede war bei ihm selten. Er war mehr der große Schweiger und handelte, wenn es sein mußte.
Auch die beiden Frauen hatten zugehört. Während Shao schwieg, meldete sich Carol Deep zu Wort. »Was wollen Sie denn mit ihm machen?« flüsterte sie. »Haben Sie einen Plan? Er wird doch nicht reagieren.«
»Da bin ich anderer Meinung, Miß Deep.« Ich wandte mich wieder an den Inder und flüsterte ihm die Worte so laut zu, daß er sie noch gut verstehen konnte. »Die Silbe, mein Freund. Die Heilige Silbe. Ich weiß, daß du sie kennst, und ich weiß auch, daß du sie nicht aussprechen darfst, denn du bist ein Unreiner. Ich aber darf sie aussprechen, und ich werde mich nicht scheuen, es zu tun.«
O ja, er hatte mich sehr gut verstanden. Nicht grundlos wollte er seinen Körper wieder in die Höhe drücken, aber Suko hielt ihn
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