0857 - Die Schnitterin
nichts zu sehen, er hat alles verdeckt, und dafür muß er seinen Grund gehabt haben.«
»Den werden wir herausfinden. Soll ich das erste Tuch abziehen, oder willst du es tun?«
»Ist mir egal.« Suko hob eine Hand und drehte sich auf dem Fleck. »Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Diese Halle ist mir nicht geheuer. Ich komme mir vor wie in einem gewaltigen Grab und würde mich nicht einmal darüber wundern, wenn wir plötzlich über irgendwelche Leichen stolpern. Da ist alles möglich.«
»Brundage war Bildhauer und kein Leichen-Kosmetiker.«
»Weißt du das genau?«
Ich winkte ab und ging auf die Statue zu, die mir am nächsten stand. Sie unterschied sich von der Höhe her nicht von den anderen, und ich war gespannt, was darunter zum Vorschein kam, wenn ich das Tuch von ihr herabzog.
Suko hielt sich im Hintergrund. Er schaute mir zu, wie ich nach einem Tuchzipfel griff. Ein kurzer Ruck reichte aus. Das Tuch schwang hoch, wellte sich für einen Moment an der Gestalt entlang und flatterte dann zu Boden.
Wenn wir darauf gefaßt gewesen waren, eine Überraschung zu erleben, so sahen wir uns jetzt enttäuscht, denn unsere Blicke fielen auf eine aus Stein gehauene Statue. Warum auch nicht? Schließlich befanden wir uns im Atelier eines Bildhauers.
Die Statue war nicht fertig. Ihr fehlte der Schliff oder auch der Glanz. Die Oberfläche wirkte griesig, was dem Ausdruck aber keinen Abbruch tat. Sehr gut waren die für unseren Geschmack weichen Gesichtszüge der Gestalt zu erkennen, so daß wir nicht sagen konnten, wen dieses Gebilde darstellte.
»Ist es ein Mann?« fragte Suko.
Ich hob die Schultern.
»Also eine Frau?«
»Das fragst du, Suko. Warum behauptest du das nicht?«
»Weil ich es nicht sagen kann.«
»Eben, ich auch nicht.« Ich ging um das Kunstwerk herum, um es von allen Seiten zu betrachten.
Dieser Brundage war wirklich ein Meister seines Fachs gewesen.
Ein Perfektionist, der diesem Steinkörper einen Schwung gegeben hatte, als würde die Statue ein lebendiges Wesen und nur einmal kurz eingeschlafen sein, bevor sie erwachte und mit uns redete.
»Es ist ein Neutrum, John.«
»Wie kommst du darauf?« Ich war stehengeblieben.
Sukos Gesicht zeigte ein säuerliches Grinsen. »Ein ES. Keine Geschlechtsmerkmale, ein Neutrum. Nicht mehr und nicht weniger. Seltsam eigentlich.«
»Warum?«
»Hast du das von einem Bildhauer erwartet? Ich nicht. Meiner Ansicht nach stellen Bildhauer Werke her, die entweder eine männliche oder eine weibliche Figur zeigen. Aber hier ist rein gar nichts. Wir können da nur stehen und raten.«
»Weder Mann noch Frau. Was liegt dazwischen?«
»Neutralität.«
Suko sah so aus, als wäre er dabei, sich seine bestimmten Gedanken zu machen. Er sprach sie allerdings nicht aus und fing damit an, weitere Tücher von den Figuren herunterzuziehen.
Wir erlebten bei jedem Kunstwerk das gleiche. Es gab keinen Hinweis auf einen Mann oder eine Frau. Die Neutralität blieb bei jeder Figur vorhanden.
Wir hatten fünf Statuen von ihren Tüchern befreit, als Suko sich umschaute, den Kopf schüttelte und mich fragte: »Ist dir eigentlich nichts aufgefallen?«
»Zum Beispiel?«
»Daß alle gleich aussehen. Es gibt kaum Unterschiede. Vielleicht in der Größe hier und da, aber von den Gesichtern her und auch den Figuren an sich kann ich keine großen Differenzen erkennen. Er hat sich auf einen Typ spezialisiert.«
»Wie bei den Bildern.«
»Stimmt. Aber die Figuren haben keine Ähnlichkeit mit Amy Brundage. Oder siehst du es anders?«
»Ganz und gar nicht.«
»Es macht das Rätsel nicht gerade kleiner. Ich frage mich, was es zu bedeuten hat. Warum hat dieser Künstler immer nur den gleichen Typ herausgearbeitet, er hat sie auch fast gleich gemacht. Das… das muß der reine Irrsinn gewesen sein. Und er hat hier auch lange nicht mehr gearbeitet. Du findest kaum ein Staubkorn auf dem glatten Boden. Hier ist alles gefegt, es wirkt wie lackiert. Es gibt zu oben keinen Unterschied. Seltsam.«
Ich wunderte mich über meinen Freund. Suko war eigentlich die Ruhe und Überlegenheit in Person. In diesem Fall aber kam er überhaupt nicht zurecht. Er fühlte sich gestört und deshalb auch unwohl.
»Du traust dem Frieden nicht.«
»Richtig.«
»Kannst du nicht genauer werden?«
Suko hob die Schultern. »Ich würde es gern, John. Ich habe nur den Eindruck, daß das hier nicht alles ist. Da fehlt noch etwas. Es gibt keine andere Lösung. Ich will mich mit dem Entdeckten hier nicht
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