0859 - Höllenliebe
Gehörn wuchs. Es gehörte eben zu ihm. Es machte ihn zwar fremd, aber es war ihr auch vertraut.
»Bist du fertig, Naomi?«
»Sicher.«
»Es wird keinen Abschied für dich geben!«
»Ich werde auch nichts vermissen.«
»Dann ist es gut.« Sein triumphierendes Lächeln sah sie nicht, als er sie zur Tür begleitete und zuerst über die Schwelle schritt.
Die junge Frau bemühte sich, leise zu sein, was nicht mal nötig war, denn ihre Tante hatte wieder einmal ihren Schlaftrunk genommen und würde so schnell nicht aus ihrem Rausch erwachen. Sie war am Tisch eingeschlafen.
Draußen fiel die Kälte über die Frau her. Zum Glück schneite es nicht mehr. Der Wind hatte die Wolken vertrieben. Über den schneehellen Berggipfeln lag ein herrlich klarer Winterhimmel.
»Wie damals im Sommer«, flüsterte Naomi.
»Was sagtest du?«
»Schon gut, nichts. Ich…« Sie verstummte, als Josephiel sie plötzlich umarmte.
»Und jetzt schließ bitte die Augen!«
Auch das tat sie.
Einen Moment später hatte sie das Gefühl, fliegen zu können. Es war nichts mehr vorhanden, an dem sie hätte Halt finden können, Josephiel einmal ausgenommen.
Aber das reichte ihr aus…
***
Jemand lachte, dann flüsterte eine Stimme in ihrer Nähe. Sie spürte auf der heißen Stirn eine kühle Hand oder ein Tuch, aber Naomi schaffte es nicht, die Augen zu öffnen, sosehr sie es sich auch wünschte. Da war etwas, das auf ihr lag und sie dem Boden entgegendrückte, und dieses Etwas verdichtete sich zu einer Stimme. Sie schwebte über die junge Frau hinweg, doch eine andere Stimme sprach mit ihr.
»Schlaf, schlaf. Du hast es verdient. Du bist so großartig. Du hast uns das Leben geschenkt. Deshalb wirst und mußt du schlafen. Bald wird alles vorbei sein. Du wirst nur noch leichte Schmerzen haben, von dem Wunder hast du nichts erlebt…«
Die Stimme rauschte weg. Naomis Augen waren geschlossen, trotzdem kam es ihr vor, als würde sie sie jetzt erst schließen.
Sie träumte.
Immer wieder von diesen Worten begleitet. Sie waren einfach nicht zu verbannen, sie blieben in ihrem Kopf. Sie hatte Leben geschenkt - Leben!
Etwas schwebte heran. Eine große Gestalt, sehr dunkel, beinahe vergleichbar mit einem riesigen Traumvogel. Er breitete keine Schwingen aus, denn aus dem Vogel wurde plötzlich ein Mensch, und dieser Mensch hatte ein Gesicht.
Das des Mannes, des Wesens, des Geliebten, wie auch immer. Josephiel starrte sie an.
Der Traum hatte sie stumm werden lassen, aber Josephiel redete mit ihr. Sie hörte seine Worte, und sie sah sein Gesicht. Die Hörner waren da, aber sie hatten sich verändert. Sie glühten dunkelrot auf, als wären sie in Blut getaucht worden. Das Gesicht darunter war Naomi bestens bekannt. Sie hatte sich darin verliebt, und sie sah das breite Lächeln auf den Lippen, das sie irgendwie nicht deuten konnte.
Es war ein Lächeln des Triumphes. Ein faunisches Lächeln, weich und widerlich. Es sagte der Schlafenden, daß der andere mehr als zufrieden mit ihr gewesen war.
Er war der Vater, sie die Mutter.
Noch immer kam sie mit Josephiel nicht zurecht. Er war so ganz anders als sie, und plötzlich floß ein Schatten über sein Gesicht, der sich einen Moment später in eine schreckliche Fratze verwandelte, die blieb, damit sie auch von der Schlafenden »gesehen« werden konnte. Es war kein Gesicht, es war auch keine direkte Fratze, es war einfach etwas anderes, und selbst als Schlafende fand Naomi einen entsprechenden Begriff. Es war das Böse. Gefühle, Taten, der Schrecken, den Menschen sich gegenseitig antaten, all das vereinigte sich in diesem Gesicht. Sie konnte es nicht herausfinden, aber Naomi wußte auch, daß sie im Schlaf die Wahrheit gesehen hatte.
Das Gesicht verschwand wieder. Es sah so aus, als würde es sich hinter einen dunklen Vorhang zurückziehen. Niemand sollte es mehr sehen. Es hatte einen Besuch abgestattet, und es würde sich nicht mehr zeigen.
Wirre Gedanken durchtosten den Schlaf der jungen Frau. Sie stöhnte auf, sie wälzte sich von einer Seite zur anderen, und sie hatte auch die Phase des Tiefschlafs verlassen. Die Bauchschmerzen waren nicht so stark, als daß Naomi davon erwachte.
Aber sie wurde trotzdem wach.
Irgendwann öffnete sie die Augen. Gleichzeitig wußte sie, daß die Zeit für sie bedeutungslos geworden war. Es konnte Nacht, es konnte aber auch Tag sein, nur eines fiel ihr auf: Sie lag in einer für sie völlig fremden Umgebung.
Nicht mehr die normale Decke ihrer Kammer schwebte über
Weitere Kostenlose Bücher