086 - Das Grab des Vampirs
würde. Er ging ins Bett.
Ira fand keine Ruhe in dieser Nacht. Vergeblich suchte sie nach einer Erklärung für die Vorgänge. Ihre Erinnerung war lückenhaft. Sie hatte Runge nicht belogen; sie wußte wirklich nicht, was alles geschehen war.
Weshalb war sie ohnmächtig geworden? So etwas war ihr noch nie passiert. Sie hatte vielmehr stets über solche Mädchen gespottet, die in besonderen Situationen angeblich oder tatsächlich das Bewußtsein verloren hatten.
Nachdenklich strich sie sich über den Hals. Dabei fiel ihr auf, daß sich an der Schlagader eine empfindliche Stelle befand. Zunächst dachte sie sich nichts dabei, dann aber wurde sie neugierig, stand auf, schaltete das Licht an und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte eine kleine Wunde am Hals; als ob sie sich dort gekratzt hätte.
Dann lächelte sie. Einen kurzen Moment lang hatte sie geglaubt, dort die Bißmerkmale zu finden, die sie aus einem Horrorfilm kannte, doch natürlich war die Annahme, hier auf dem Schloß oder in seiner Umgebung könnte wirklich ein Vampir hausen, lächerlich.
Sie kehrte ins Bett zurück.
Eigentlich konnte es doch nur so gewesen sein, daß sie gerade in dem Augenblick von dem Unbekannten überfallen worden waren, als sie drauf und dran gewesen war, sich dem Comte hinzugeben. Vielleicht war der Comte bewußtlos geschlagen worden, während man sie mit Gas betäubt hatte? Vielleicht war Dietmar gerade rechtzeitig gekommen, den geistesgestörten Mörder zu vertreiben?
Ira stand erneut auf und nahm aus ihrer Reisetasche eine kleine Flasche Cognac. Sie trank einen kleinen Schluck und legte sich danach wieder ins Bett und schlief ein.
Runge erwartete sie am nächsten Morgen unruhig am Frühstückstisch. Ira kam, als Lord Wellsley, Lady Tessa und Alphonse de Marcin schon Platz genommen hatten. Sie trug eine helle Sommerhose und einen Pulli mit Rollkragen. Runge stutzte, weil er wußte, daß dieser Pulli nur für kalte Tage gedacht war. Draußen war es jedoch recht warm, und bei solchen Temperaturen zog Ira sonst stets einen kleinen Ausschnitt vor.
Sie lächelte zaghaft und setzte sich neben ihn. Er schenkte ihr Kaffee ein; dabei fiel ihm auf, daß ihre Hände unruhig waren. Sie hatte den Schock des gestrigen Abends noch nicht überwunden.
Wenig später erschien June am Tisch. Das Mädchen sah bleich und erschöpft aus. Auch sie trug einen Pulli mit einem Kragen, der ihren Hals fast bis unter das Kinn verhüllte.
„Der Comte hat ihr jedenfalls nicht viel Schlaf gegönnt“, sagte Runge so leise, daß nur Ira es verstehen konnte.
Sie trat ihm prompt auf den Fuß.
„Immer ist das Kind unpünktlich“, nörgelte Lady Tessa. „June, kannst du nicht ein einziges Mal früher aufstehen?“
Der Teenager antwortete nicht. June schien die Worte ihrer Mutter gar nicht gehört zu haben. Sie blickte auf ihren Teller und bestrich sich ein Brötchen mit Butter. Ihre Hände zitterten. Sie sah so aus, als ob sie krank wäre, nicht aber, als ob sie eine stürmische Liebesnacht hinter sich hätte. Das änderte sich erst, als der Comte de Rochelles den Salon betrat. Er sah frisch und unerhört stark aus. Sein Gesicht schien nicht mehr so blaß wie sonst, und seine Augen leuchteten.
June blickte zu ihm auf, und ihr Aussehen wandelte sich von Sekunde zu Sekunde, so als ob ein Lebensstrom von ihm zu ihr hinüberfließen würde.
Runge wandte sich Ira zu, und es war, als ob sie nicht mehr an seiner Seite sitzen würde. Ihre Wangen röteten sich, und ihre Hände wurden ruhig. Aber sie sah nicht den Comte an, sondern beschäftigte sich mit gesenktem Kopf mit ihrem Brötchen.
„Ich sehe“, sagte der Comte lächelnd. „daß die jungen Damen die Nacht der Vampire heil und unbeschadet überstanden haben. Verehrter Alphonse, Sie haben uns offenbar getäuscht.“
Alphonse de Marcin strich sich mit den Fingerspitzen über die rosa Wangen und lachte amüsiert.
„Ich habe nie versucht, den Damen einen Schrecken einzujagen, sondern gleich gesagt, daß die Vampirgeschichte ein reines Ammenmärchen ist. Wer glaubt schon an so etwas? Sie etwa, June?“
Das Mädchen setzte verwirrt ihre Kaffeetasse ab. „Ich? Nein. Natürlich nicht. Sollte ich?“
„Und Sie, Mademoiselle Ira?“
Die Fotografin lachte, aber ihre Fröhlichkeit wirkte nicht echt. Runge spürte, daß sie etwas belastete.
Albert, das Faktotum, kam herein. Er brachte frische Milch. Dietmar Runge fiel auf, daß er Kratzspuren auf der rechten Wange hatte. Es sah so aus, als ob
Weitere Kostenlose Bücher