086 - Das Grab des Vampirs
Albert mit jemandem gekämpft hätte. Niemand sonst an der Tafel schien das zu bemerken.
Runge beendete sein Frühstück sofort, als Ira sich erhob. Er war zwar noch nicht gesättigt, aber es war ihm wichtig, an der Seite des Mädchens zu bleiben. Zusammen mit ihr ging er hinaus.
An der Treppe blieb sie stehen. „Warum läßt du mich nicht in Ruhe, Dietmar?“
„Weil ich verhindern möchte, daß jemand, der dich nicht so gut kennt wie ich, deinem spröden Charme verfällt und anschließend – wegen deiner Eigenheiten – einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen bekommt.“
„Du bist lieb, aber ich wäre dir dennoch dankbar, wenn du mich – wenigstens für ein paar Minuten – allein lassen würdest.“
„Ira, wollen wir nicht vernünftig sein? Laß uns von hier verschwinden. Das Schloß ist nicht das, was wir gesucht haben.“
„Ich bin vernünftig, aber ich habe das Gefühl, daß du es nicht bist.“
„Ira, laß uns abreisen!“
„Ich bleibe.“
Sie wandte sich um und eilte die Treppe hinauf. Er blickte ihr nach, bis sie oben um den Treppenabsatz verschwand.
Zunächst verstand er Ira nicht, doch je länger er über sie und das, was vorgefallen war, nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie sie empfand. Sie wollte nicht gehen, bevor sie nicht wußte, was das Geheimnis dieses Schlosses war. Immer wieder hatte er sich gefragt, ob Ira auf der Landstraße wirklich von dem Blutmörder belästigt worden war. Zunächst hatte er geglaubt, daß sie sich mit ihrem Bericht nur interessant hatte machen wollen, doch Ira war nicht so. Wie war es dann aber möglich, daß sie den Mann fotografiert, doch nicht auf den Film bekommen hatte? Sie war Fotografin aus Leidenschaft und bestach durch ihr Können; ihre technische Perfektion hatte ihn von Anfang an begeistert. Was war also geschehen? War sie das Opfer einer Halluzination geworden? Oder war sie vor Erschöpfung eingeschlafen und hatte alles nur geträumt?
Runge wußte, daß es klüger gewesen wäre, abzureisen; aber es wäre zugleich auch höchst unbefriedigend gewesen, weil die Ungewißheit geblieben wäre. Ihn interessierten die Vorfälle vom medizinischen Standpunkt aus. Er hatte einen Teil seines Praktikums in einer psychiatrischen Klinik absolviert. In dieser Zeit war sein Interesse an Geisteskranken erwacht. Hier hatte er es mit einem offenbar geistesgestörten Mörder zu tun und er wünschte, mehr über die Hintergründe des Falles zu erfahren; zumal er glaubte, daß einige Fäden zu der Vampirlegende des Grafen Marcel führten, der seine jugendliche Schwägerin Bianca ermordet hatte.
Alphonse de Marcin kam aus dem Salon. Runge ging zu ihm.
„Sagen Sie, bitte, Monsieur, würden Sie mir erlauben, die Schloßchronik zu lesen?“
„Aber selbstverständlich“, antwortete der Schloßherr, der erfreut über das unerwartete Interesse an der Geschichte des Schlosses war. Offenbar war es lange her, daß einer seiner Gäste nach der Chronik gefragt hatte. „Kommen Sie, ich führe Sie in die Bibliothek!“
Als Ira Bergmann ihr Zimmer verließ, trug sie ihren Fotoapparat unter dem Arm. Sie wollte die Treppe hinuntergehen, als Comte de Rochelles hinter einer Säule hervortrat.
„Ira!“
Sie fuhr herum. Mit keiner Regung ihres Gesichts verriet sie, was sie empfand.
„Es tut mir so leid, was heute nacht geschehen ist“, sagte er und griff nach ihrer Hand. „Ich verlor plötzlich das Bewußtsein und wachte erst auf den Klippen an der Steilküste wieder auf. Es war schon fast hell. Natürlich lief ich sofort zum Zypressenwäldchen, aber Sie waren nicht mehr dort.“
„Und Sie wissen wirklich nicht, was passiert ist?“
„Ich schwöre es, Ira. Ich bin bestürzt über dieses Ereignis. Ich fürchte, es…“
„Was wollten Sie sagen, Comte?“ Er blickte zur Seite. Sie hatte das Gefühl, daß er sich ihr entziehen wollte.
„Bitte, sagen Sie doch, was Sie glauben!“
Sein Gesicht schien einzufallen, und seine Augen versanken in den Höhlen.
„Ich sollte wirklich nicht darüber sprechen, Ira, aber ich vertraue Ihnen. Sehen Sie, ich habe von meinem Vater ziemlich viel geerbt. Zu meinem Besitztum gehören zwei Schlösser wie dieses, ein Gut, ein kleiner Industriebetrieb und Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Leider sind meine Verwandten der Ansicht, daß ich nicht Alleinerbe bin, sondern daß ihnen ein erheblicher Anteil des Vermögens meines Vaters gehört. Sie versuchen mit allen Mitteln – auch mit ungesetzlichen – mir mein Erbe
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