086 - Das Grab des Vampirs
wird niemand etwas tun, Ira. Es geht um mich. Ganz allein um mich und mein Erbe. Vertrauen Sie mir! Bitte!“
Sie blickte ihn an und beruhigte sich. Plötzlich wußte sie, daß sie ihn nicht allein lassen durfte. Sie empfand viel zuviel für ihn.
Zaghaft lächelnd sagte sie: „Ich bleibe, Comte, aber, bitte, gehen Sie jetzt! Ich möchte nicht, daß Herr Runge Sie hier sieht.“
Er deutete eine Verneigung an und verließ ihr Zimmer. Ira wartete ein wenig, dann lief sie zu Runge hinüber.
„Ich bin fertig“, sagte er, als sie eintrat. Er deutete auf seine Koffer. „Alles ist gepackt. Jetzt brauchen wir uns nur noch von Alphonse zurückholen, was wir zuviel bezahlt haben.“
„Ich bleibe.“
„Alphonse wird zwar meckern, aber das interessiert uns ja nicht. Eh – was hast du gesagt?“
„Ich bleibe.“
Er ließ sich auf sein Bett sinken. „Das ist das berühmte Gänseblümchenspiel: Ich bleibe – ich bleibe nicht – ich bleibe – ich bleibe nicht. Sag mir, bitte, Bescheid, wenn du dich endgültig entschlossen hast.“
„Didi, es tut mir leid, aber ich…“
„Schon gut.“
Bestürzt über seinen abweisenden Ton, verließ sie sein Zimmer. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Im Park herumzuspazieren, hatte sie keine Lust; sie wollte den anderen auch nicht begegnen; und ins Dorf zog es sie auch nicht. So beschloß sie, den letzten Film im Badezimmer zu entwickeln. Sie dunkelte das Badezimmer sorgfältig ab, holte ihre Kamera und öffnete sie, um den Film herauszunehmen. Die Kamera war leer.
Ira saß zwischen den Klippen an der Steilküste und blickte auf das Meer hinaus. Es war noch immer windig und nicht besonders warm, doch sie fror nicht. Sie war froh, daß sie allein war. Bis zum Mittagessen hatte sie noch eine Stunde Zeit.
Ganz bewußt hatte sie sich eine Stelle ausgesucht, die einige Meter unterhalb der Felsspitze lag und von oben nicht zu sehen war. Dennoch tauchte unvermittelt Dietmar Runge bei ihr auf.
„Hallo, Ira! Seit wann versteckst du dich?“
Sie rückte wortlos zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er setzte sich neben sie und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich habe ein wenig in der Schloßchronik herumgeschnüffelt“, sagte er, ohne sich um ihr Gesicht zu kümmern, an dem er deutlich ablesen konnte, daß sie auf Gesellschaft keinen Wert legte. „Auf diese Weise habe ich herausgefunden, daß du genau an der Stelle bewußtlos geworden bist, an der jener unglückselige Graf Marcel begraben wurde, der in den Vollmondnächten als Vampir herumgeistert. Du hast ihn nicht zufällig aus seinem Grab steigen sehen?“
Sie ging nicht auf seinen ironischen Ton ein. Kalt antwortete sie: „Nein.“
„Die Geschichte mit diesem Marcel ist schon seltsam.“
„So?“
„Alphonse hat uns nicht alles erzählt. Er hat uns das Schicksal seiner Gattin Isabelle verschwiegen.“
Ira wandte sich ihm voll zu. „Glaubst du wirklich, daß das so wichtig ist?“
„Wir müssen doch wissen, was es mit dieser Vampirgeschichte auf sich hat. Oder nicht?“
„Dietmar, wir leben im Jahre 1974 und nicht im Mittelalter. Du weißt genau, daß es keine Vampire gibt. Diese gewiß tragische Geschichte des Grafen Marcel und seiner Schwägerin Bianca ist völlig bedeutungslos.“
„Ach, und woher weißt du das?“
„Es geht um den Comte. Man will ihm sein Erbe abjagen und intrigiert gegen ihn.“
„Wer?“
„Seine Verwandten – und irgend jemand, der hier auf dem Schloß ist.“
„Vielleicht die Engländer?“
„Völlig ausgeschlossen wäre das nicht.“
„Dann benimmt er sich aber ziemlich unvorsichtig.“
„Wieso? Ich verstehe dich nicht.“
„Nun, er hat die letzte Nacht im Zimmer von June verbracht.“
Das Blut wich aus ihren Wangen. Sie holte blitzschnell aus und versetzte Runge eine Ohrfeige. Dann sprang sie auf und kletterte die Felsen hoch.
„Ira, bleib doch! Ich muß mit dir reden!“
Sie antwortete nicht und rannte davon.
Runge lief ihr nicht nach, wie er es zunächst vorgehabt hatte. Er sah ein, daß er sie nicht halten konnte. Sein Zorn über ihre unerwartet heftige Reaktion legte sich bald. Er wußte selbst, daß er nicht besonders geschickt gewesen war.
Beim Mittagessen fehlte Ira. Emilie, die Frau des Hausdieners Albert, die zu ihr geschickt wurde, teilte mit, daß sie sich nicht wohl fühlte.
Runge war nicht überrascht. Vielmehr wäre er erstaunt gewesen, wenn sie gekommen wäre. Er war sich klar darüber, daß sie sowohl ihm, als auch dem
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