086 - Das Grab des Vampirs
aussehen, als unter normalen Umständen.“
Ira hatte Angst. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Sollte sie dem Comte glauben? Sollte sie bleiben oder abreisen?
Am späten Nachmittag, als sie sicher war, daß Dietmar Runge sie nicht sehen würde, eilte sie zu ihrem Wagen hinunter und fuhr nach St. Brieuc, um mit Inspektor Poullais zu sprechen. Von ihm erhielt sie jedoch keine Auskunft, die sie erleichtert hätte. Der Blutmörder war noch nicht gefunden worden, und es gab auch keine heiße Spur.
„Was beunruhigt Sie so, Mademoiselle?“ fragte der Inspektor, der sie in sein Dienstzimmer geführt hatte.
Sie schilderte, was auf dem Schloß geschehen war, aber schon nach wenigen Worten spürte sie, daß er ihr keinen Glauben schenkte.
Deshalb sagte sie: „Ich glaube, ich kenne den Mörder. Es ist Albert Maurnier, der Kastellan des Schlosses. Er sieht so aus wie der Mann, der versucht hat, mich aus dem Auto zu zerren.“
Poullais runzelte die Stirn und blickte Ira nachdenklich an.
„Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da gesagt haben, Mademoiselle.“
„Ich weiß genau, was ich sage, Inspektor.“
„Wir werden Maurnier verhören müssen.“
„Glauben Sie, er gibt zu, daß er den Mord begangen hat?“
„Wohl kaum. Aber er wird uns ein Alibi bringen müssen. Und es ist nicht verkehrt, wenn er weiß, daß wir ihm auf der Spur sind. Das wird ihn – vielleicht – zu Fehlern veranlassen.“
Der Inspektor erhob sich und reichte Ira die Hand. Das Mädchen verabschiedete sich. Sie hatte ein schlechtes Gewissen.
Von der Polizeistation aus ging sie direkt zur Post und meldete ein Gespräch nach Deutschland an. Die Verbindung klappte überraschend schnell. Ira brauchte einige Zeit, ehe sie ihrer Mutter erklärt hatte, was sie überhaupt wollte. Schließlich aber beteuerte ihr ihre Mutter, daß sie nie zuvor in Frankreich gewesen wäre. Wenn ihr das Interieur des Schlosses bekannt vorkäme, so lag das mit Sicherheit nicht an verschütteten Kindheitserinnerungen.
Ira beruhigte diese Auskunft keineswegs; im Gegenteil; sie verwirrte sie noch mehr, denn jetzt konnte sie sich überhaupt nichts mehr erklären. Am liebsten wäre sie zu Dietmar Runge gelaufen und hätte sich mit ihm ausgesprochen, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.
Sie fuhr zurück und erreichte das Schloß, als die Dämmerung hereinbrach. Emilie hatte ein kleines Abendessen für sie vorbereitet; die anderen hatten bereits gegessen.
„Wissen Sie, wo June ist?“ fragte sie.
Emilie blickte auf, als hätte sie gerade diese Frage befürchtet.
„Nein“, antwortete sie zaghaft. „Wir suchen sie schon seit mehr als einer Stunde.“
„Sie ist weg?“
Ira konnte es nicht fassen. June konnte doch nicht einfach weggelaufen sein, ohne irgend jemanden zu informieren.
Emilie ließ ihre Arme hängen. Sie sah wie ein Häufchen Elend aus. Die Fotografin mußte daran denken, was sie Inspektor Poullais erzählt hatte. Schuldbewußt wich sie den Blicken der Frau aus.
„Sie fürchten sich, nicht wahr, Emilie?“
„Ja, ich fürchte mich.“
„Wovor, Emilie?“
„Ich will fort. Ich bleibe nicht länger in diesem Haus. Ich will nicht sterben.“
„Wollen Sie mir nicht sagen, wovor Sie Angst haben?“
Emilie antwortete nicht, da Albert Maurnier, ihr Mann, in diesem Augenblick eintrat. Mürrisch musterte er Ira, die er nicht in der Küche erwartet hatte. Emilie stellte Ira ein Glas Rotwein auf den Tisch. Sie ergriff es und trank es halb aus; dann setzte sie es ab, weil ihr der Wein wie Blut vorkam.
„Wo ist June?“ fragte Emilie.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete der Kastellan. „Woher soll ich das wissen?“
Ira musterte ihn. War er der Blutmörder von der Landstraße? Sie konnte es nicht sagen. Sie sah das Gesicht des Mannes zwar noch deutlich vor Augen, doch sie wußte nicht, ob der Mann Albert ähnlich sah. Sie hatte den Eindruck gehabt, der Mörder hatte sein Gesicht unkenntlich gemacht. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Albert bestand zweifellos, aber reichte das aus, ihn als Mörder zu beschuldigen?
„Was starren Sie mich so an?“ fragte der Kastellan.
„Sprich doch nicht so mit der Mademoiselle, Albert!“
„Sei still!“
Bestürzt über die sich anbahnende Auseinandersetzung zwischen Albert und Emilie, erhob sich Ira und ging hinaus. Sie stieg die Treppe hoch und wunderte sich über die Stille im Haus. Sonst gab es immer irgendwelche Geräusche: eine Uhr tickte, irgendwo schlug eine Tür zu, jemand sprach, draußen
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