086 - Das Grab des Vampirs
Stunde in Ruhe lassen.“
Ira antwortete nicht. Ihr war, als ob sie träumte. Ihre Umgebung schien unwirklich zu sein. Es kam ihr so vor, als gleite sie auf unsichtbaren Kissen dahin. Der Motor lief geräuschlos. Der Mond kam wieder hinter den Wolken hervor und überschüttete das Land mit einem eigenartigen, silbrigen Licht, das alles noch seltsamer erscheinen ließ. Ira bereute, daß sie den Comte begleitet hatte. Sie begann sich zu fürchten und wußte nicht einmal, weshalb.
Dietmar Runge suchte Ira, nachdem der Inspektor ihn entlassen hatte. Zur gleichen Zeit irrte auch Albert Maurnier durch das Schloß, doch er begriff schon bald, daß Emilie geflohen war. Er sprach gerade mit Alphonse de Marcin, um ihn zu fragen, ob seine Frau sich bei ihm abgemeldet hätte, als Runge zu ihnen stieß.
„Ich habe gerade erfahren, daß Ira mit dem Comte de Rochelles nach St. Brieuc gefahren ist“, sagte Runge. „Ich kann mir nicht vorstellen, was sie dort wollen.“
„Das weiß ich allerdings auch nicht“, entgegnete de Marcin und schickte Maurnier weg.
„Monsieur, ich hätte einige Fragen an Sie. Haben Sie ein wenig Zeit für mich?“
„Es ist schon spät“, sagte de Marcin nach einem Blick auf seine Uhr. „aber ich kann doch nicht schlafen. Kommen Sie! Wir gehen in das Herrenzimmer.“
Er führte Runge in den Ostflügel des Schlosses in einen gemütlich eingerichteten Raum. Hier bot er dem jungen Mann einen Hauswein an, den Runge gern annahm.
„Monsieur de Marcin, die Ereignisse der letzten Stunden lassen die Geschichte, die Sie uns erzählt haben, recht makaber erscheinen.“
„Glauben Sie mir, ich bin entsetzt. Ich hätte diese Fabel nie erzählt, wenn ich geahnt hätte, was passieren würde.“
„Monsieur, ich habe mit Ihrer Erlaubnis die Chronik des Schlosses gelesen.“
„Ach die!“ entgegnete Alphonse de Marcin abwertend.
„Ich habe eine Reihe von interessanten Hinweisen gefunden, aber vielleicht nicht alles verstanden. Sie wissen, daß ich Ihre Sprache nicht besonders gut beherrsche. Könnten Sie mir helfen?“
„Gern. Was wollen Sie wissen?“
„Also: Graf Marcel hatte ein Liebesverhältnis mit seiner jüngeren Schwägerin Bianca. Als diese schwanger wurde, brachte er sie um. Ist das richtig?“
„Richtig.“
„Biancas Tod blieb nicht ungerächt. Der Vater von Isabelle und Bianca, der Dauphin Antoine de Maillol, kam offenbar sehr schnell dahinter, was sich auf dem Schloß getan hatte. Er plante, den Grafen Marcel für seine Tat zu töten.“
„Auch das ist richtig.“
„Der Dauphin hielt sich tagelang in der Nähe des Schlosses auf. Als der Graf Marcel eine Kapelle betrat, die im Park errichtet worden war, wähnte er ihn in der Falle.“
„Das stimmt.“
„Der Dauphin plante, den Grafen in der Kapelle zu verbrennen. Deshalb zündete er das Gebäude an und ließ es in Flammen aufgehen. Dabei hatte er jedoch übersehen, daß Graf Marcel die Kapelle schon wieder verlassen und seine Tochter Isabelle sie mit ihrer siebenjährigen Tochter betreten hatte. Nicht Graf Marcel starb in den Flammen, sondern Isabelle mit ihrer Tochter.“
„Sie haben wirklich alles richtig verstanden, Monsieur Runge.“
„Natürlich bemerkte der Dauphin seinen schrecklichen Irrtum. Er versuchte, Isabelle und ihre Tochter zu retten, kam aber zu spät. Gemeinsam mit Graf Marcel, der herbeigeeilt kam, hörte er die Schreie der Sterbenden. Sie konnten nichts tun. Darauf entbrannte ein heftiger Kampf zwischen den beiden Männern, bei dem beide schwer verletzt, aber nicht getötet wurden. Das Gefolge von Graf Marcel trennte die beiden Kämpfer schließlich. Der Dauphin kehrte auf seinen Landsitz zurück, Graf Marcel heilte im Schloß seine Wunden. Die beiden Männer haben sich nie wieder gesehen.“
„Auch das ist richtig“, bestätigte de Marcin. „mit einer Einschränkung. Die Chronik behauptet, die beiden Männer hätten sich zu Lebzeiten nicht wieder gesehen. Nicht nur Graf Marcel wurde zu einem untoten Vampir, auch der Dauphin. Dieser starb sogar vor dem Grafen. Er wurde wegen Doppelmordes angeklagt und hingerichtet. Vor seinem Tod soll er noch tagelang gefoltert und dabei derart verunstaltet worden sein, daß er bei seiner Hinrichtung nur noch ein Krüppel war.“ „Ah – so war das. Diesen Abschnitt konnte ich nicht übersetzen. Ich weiß nur, daß die beiden Vampire ihren Kampf nie beendet haben. Graf Marcel soll nicht nur in Vollmondnächten durch das Schloß irren, sondern häufig
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