0862 - Der Leichenmantel
Vielleicht war es für die Brücke ins ewige Leben, wie auch immer du das interpretieren magst. Wer weiß, was man ihnen versprochen hat und welche Kräfte hier gehaust haben. Das Kloster hat lange leer gestanden. Es wurde erst später von den Nonnen besetzt. Es ist auch nicht groß. Wir finden hier normale Räume vor, wir haben keine Bethallen gesehen, und ich will es mit einem normalen Kloster nicht vergleichen. Hier hat mal jemand gehaust.«
»Eine Person?«
»Nimm es nicht so genau. Ich kann auch von einer negativen Kraft sprechen oder vom Bösen, wie auch immer. Jedenfalls sollten wir uns auf einen neuen Gegner einstellen.«
»Und was ist mit den Nonnen? Vergessen?«
»Ja.«
»Du glaubst also nicht mehr an eine Rückkehr. Sie sind und bleiben in der anderen Dimension.«
»Werden sie denn noch gebraucht? Gehen wir mal davon aus, daß diese andere Kraft im Hintergrund gelauert hat. Daß sie gleichzeitig nichts mit der zu tun hatte, die wir als Josephiel und die Zwillinge bezeichnet haben. Also kein abtrünniger Engel. Ich will nicht sagen, daß die andere Kraft älter ist, aber sie hat sich nur zurückgezogen gehabt, solange die Nonnen dem Abtrünnigen und seiner Brut Unterschlupf gewährten. Jetzt, wo sie nicht mehr vorhanden ist, kann sich die andere Kraft wieder vorwagen, und das hat sie getan.«
»Gut, John, sehr gut«, lobte Suko.
»Aber?«
»Uns fehlt der Beweis.«
Ich lachte leise. »Du kannst versichert sein, daß wir uns den holen werden, mein Lieber.«
»Hier unten?«
»Nein, ich glaube nicht, daß es etwas bringt. Die Sache hier ist vorbei, jemand ist freigekommen, die Reste der Namenlosen Nonnen bleiben für immer verschwunden.«
Suko lächelte. »Ich wünsche, daß du recht behältst, John. Also können wir die ungastliche Stätte verlassen.«
»So sehe ich das auch.«
»Wie geht es weiter?«
»Wir müssen mit den Frappis reden. Mir geht diese Geschichte von dem Leichenmantel nicht aus dem Kopf. Es ist verrückt, aber ich denke schon einen Schritt weiter.«
»Schön. Und welchen?«
Ich trat dichter an meinen Freund heran. »Kannst du dir vorstellen, daß sich jemand einen Mantel aus der Haut von Toten herstellt? Kannst du das, Suko?«
Er runzelte die Stirn. »Der Mantel aus Menschenhaut. Aus der Haut der Nonnen.« Er trat mit dem Fuß auf. »Allmählich wird es immer wahrscheinlicher.«
»Das denke ich auch.«
»Dann müßten wir also eine Gestalt suchen, die einen derartigen Mantel trägt.«
»Ja, kann sein.«
»Wo sollen wir anfangen?«
»Nicht hier, Suko. Ich glaube nicht, daß er sich hier noch lange aufhalten wird, falls es ihn überhaupt gibt. Wir sollten jedenfalls in der kommenden Nacht wach bleiben. Es kann sein, daß er Triviso zu einem Ort des Grauens machen will.«
»Na ja«, sagte Suko und hob die Schultern. »Hier jedenfalls haben wir nichts mehr zu suchen - oder?«
»Bestimmt nicht.«
Wir wandten uns wieder der Treppe zu. Diesmal sprachen wir nicht. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Obwohl wir keine dieser abtrünnigen Nonnen sahen, hatte ich zumindest den Eindruck, sie noch um mich zu haben. Waren es ihre Geister, die uns aus ihrer Welt beobachteten?
Auf dem Weg zur Treppe erreichte etwas Fremdes mein Gehirn. Es war ein bestimmter Druck, dem ich auch nichts entgegenzusetzen hatte. Kein Kopfschmerz, ich stellte nur fest, daß etwas Kontakt mit mir aufnehmen wollte.
Gedanken durchströmten mein Gehirn. Sie waren zahlreich, sie ließen sich nicht aufhalten, sie zirkulierten, aber ich konnte nicht herausfinden, wer Kontakt zu mir suchte.
Möglicherweise waren es die Geister der Namenlosen Nonnen, die sich hier aufhielten und in ihrer Verzweiflung versuchten, näher an die Menschen heranzukommen.
Manchmal hörte ich auch Stimmen.
Ein scharfes Flüstern, vermischt mit einem kurzen, trockenen Lachen, als hätten sich die Wesen einen Spaß daraus gemacht, mich zu ärgern.
Ich ging weiter auf die Treppe zu. Die Stimmen in meinem Kopf ignorierte ich, und sie verstummten auch sehr bald, kaum daß ich mit dem rechten Fuß die unterste Stufe berührt hatte.
Ich blieb für einen Moment stehen, denn die Normalität irritierte mich plötzlich.
Suko blieb an meiner Seite. »Was hast du?«
»Jetzt nichts mehr.«
»Sondern?«
Ich wollte ihm nichts sagen. Das hätte ihn nur mehr verunsichert. »Laß uns endlich gehen.«
Wir stiegen hoch. Unbewußt gingen wir sehr leise hoch.
Wie auf ein geheimes Kommando hin blieben wir stehen. Bisher waren wir die einzigen
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