0862 - Der Leichenmantel
nachvollziehbar. Zwar sahen wir die schrecklichen Szenen zum Greifen nahe vor uns, das aber täuschte.
Hinter diesen Wänden lag etwas anderes als normales Mauerwerk, hier hatte sich eine fremde Dimension aufgebaut, eine fürchterliche Jenseitswelt, das Reich eines Dämons, die Dimensionen des Schreckens und Unfaßbaren.
Ich traute mich und faßte die Wand an.
Meine Hand traf auf Widerstand. Da war nichts Weiches, durch das ich greifen konnte. Die Wand blieb, aber in ihr sahen wir das Leid der Toten. Sie verloren ihre Haut der Reihe nach. Was zurückblieb, war ein unförmiges Etwas als Körper, durch das hin und wieder das helle Gebein der Knochen schimmerte.
Grausame Puppen malten sich in der Wand ab. Es gab keine Gesichter mehr, wir sahen einfach nur schaurige Köpfe ohne Nasen, Augen oder Münder. Und wir konnten auch nicht unterscheiden, wer da mitmischte. Es gab eben die Kraft aus der anderen Dimension, der Hölle, wie immer, die hier vor unseren Augen zuschlug.
Eine Namenlose hieß Gitta. Aber wir sahen nicht, wer sie gewesen war, denn letztendlich sahen alle Nonnen gleich aus.
Bis zum Schluß schauten wir zu.
Dann gab es keine Namenlose mehr, die noch einen Fetzen Haut auf dem Körper getragen hätte. Ich hörte mich selbst leicht stöhnen, wobei ich den Kopf schüttelte wie jemand, der rein gar nichts begreifen konnte. Der einfach überrascht worden war von dem Grauen aus einer anderen Welt.
Die Bilder verschwanden.
Sie zogen sich zurück, in eine Tiefe, die wir als solche nicht einmal ausloten konnten. Hinein in ihre Welt, und dann lagen die Wände und Mauern wieder normal vor uns.
Ich hörte mich selbst atmen - oder war es schon ein Stöhnen? Ich wußte es nicht. Der Schock dieser schrecklichen Bilder jedenfalls klang noch lange in mir nach.
Auch Suko sah aus wie ein Mensch, der neben sich selbst stand. Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht fassen, was er soeben gesehen hatte.
Um überhaupt etwas zu tun, hob ich die Lampe und leuchtete die Wände ab. Da war nichts mehr, was sich bewegte. Es gab keine Szene in ihr. Sie hatten wieder ihr normales Aussehen angenommen, und das Erlebte erschien uns wie ein grausamer Alptraum.
Auch Suko wollte es genau wissen. Seine leise Stimme schwang mir entgegen. »Du hast… du hast… das gleiche gesehen wie auch ich, John? Oder nicht?«
»Doch, das habe ich gesehen.«
»Die Nonnen, die Toten sind geholt worden und haben ihre Haut verloren. Wer tat es?«
Mir fiel eigentlich nur eine Antwort ein. »Es muß dieser Erfrorene gewesen sein.«
»Meinst du?«
»Ich habe keine Alternative.«
Suko suchte noch immer nach einer anderen Erklärung. »Kann es nicht auch die Rache Josephiels gewesen sein?«
»Der existiert nicht mehr.«
»Und ein Helfer?«
Ich hob die Schultern. »So kompliziert möchte ich jetzt nicht denken, Suko.«
»Ist schon gut. Wir sind wohl beide etwas durcheinander. Jedenfalls haben wir ein neues Problem.«
»Das stimmt.«
Ich wußte auch nicht, wie ich es lösen sollte. Nebenbei fragte ich mich natürlich, ob die Nonnen tatsächlich mit dem Verlust ihrer Haut die Pflicht getan hatten?
Sie umgaben uns noch.
Wir spürten sie.
Ihre Ausstrahlung schlug sich auf mein Kreuz nieder, denn die seltsame Wärme war geblieben. Ein Beweis dafür, daß die Magie hier nicht verschwunden war.
»Was können wir tun?«- fragte Suko in meine Gedanken hinein und schaute mich lächelnd an.
Ich schüttelte den Kopf. »Andere Frage. Können wir überhaupt etwas tun, oder sollen wir etwas tun?«
»Keine Ahnung.«
»Ist das alles?«
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Nein, das ist nicht alles, aber ich frage mich, ob wir nicht alles auf uns zukommen lassen müssen. Erst danach können wir handeln.«
»Eine gute Lösung. Wobei ich mich frage, was da auf uns zukommt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Nonnen noch weiter mitmischen. Die sind erledigt, die haben ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Wer immer sie benutzt hat, er wird sie nicht mehr gebrauchen. Sie haben sich überschätzt oder waren einfach falsch informiert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich ein derartiges Ende gewünscht haben.«
»Aber wir haben sie hier tot liegen sehen.«
»Richtig. Vergiftet, denke ich.«
»Haben sie das selbst getan?«
Ich nickte. »Sicher.«
»Dann nenn mir den Grund!« forderte Suko.
Da hatte er mich auf eine glatte Fläche geführt. »Ich kann es mir normal nicht erklären, Suko. Aber Logik ist hier nicht angebracht.
Weitere Kostenlose Bücher