0866 - Die Herrin der Raben
»Auch das bedarf einer Klärung. Hm. Lasst mich doch mal kurz spekulieren. Wir wissen, dass Svantevits viertes Gesicht Wirtskörper zum Überleben braucht. Nachdem er aus der Traumzeit floh, muss er also hier in unserer Welt in jemanden gefahren sein. Das heißt, wir müssen nach einem Menschen fahnden, der irgendwie mit Raben zu tun hat. Die blonde Frau vielleicht?«
»So sieht es aus. Aber Vorsicht. Wir wissen noch viel zu wenig«, erwiderte Zamorra. »Oft trügt der Schein gewaltig. Lasst mich deswegen den Gedanken noch ein wenig ausweiten. Da Svantevit bei seiner Flucht aus der Traumzeit auch die Zeitbarrieren gesprengt haben könnte, besteht die Möglichkeit, dass er in der Vergangenheit auf unserer guten alten Mutter Erde gelandet ist. Vielleicht hat er sich ein paar Jahre oder Jahrhunderte ruhig verhalten und schlägt erst jetzt wieder zu. Vielleicht müssen wir den Menschen mit dem Rabenbezug in der Vergangenheit suchen.«
»Du redest kompletten Unsinn, Chéri.« Nicole lächelte und legte ihm die linke Hand aufs Knie. »Man sieht's doch immer wieder, dass bei Männern und logischem Denken zwei Welten aufeinanderprallen. Also: Wäre Svantevit in der Vergangenheit gelandet, hätte er seinen neuen Wirtskörper ohne Probleme zum Weltentor vor Rügen lenken können. Denn das gab es damals noch. Dann wären die vier Gesichter des Dämons längst wieder vereint, und bei uns wäre das Stoffwechselendprodukt am dampfen. Und hätte es ihn in die Steinzeit verschlagen, hätte er den Übergang schon im Jahr 422 wieder geschafft, als er nämlich höchstpersönlich vor Rügen das Tor in unsere Welt aufstieß. Klar?«
»So klar ist das alles nicht. Du sprichst nämlich mehrere Zeitparadoxa gleichzeitig an. Und dass die mit dem logischen Menschenverstand nicht zu begreifen sind und sowieso machen, was sie gerade wollen, haben wir ja gesehen. Ich sage nur: Spiegelwelten. Also wäre ich vorsichtig…«
»Aber, aber, wer wird sich denn streiten«, unterbrach Bruder Claudius seine Freunde. »Ich schlage vor, dass ich mich um die Rabenfrage kümmere, während ihr euch auf die Suche nach diesem blonden Gift macht. Ja oder ja?«
»Ja«, murmelte Zamorra. »Wir werden unsere Diskussion also an anderer Stelle fortsetzen. Da sind noch ein paar Dinge auszuräumen.«
»Stimmt. Schubladen und Schränke, wenn ich dich aus dem Château werfe«, spottete Nicole. »Du hast nur eine Chance, diesem Schicksal zu entgehen.«
»Ich weiß«, seufzte der Professor. »Mund halten und dir in allen Dingen recht geben.«
»Exakt in dieser Reihenfolge.«
***
Nach ein paar Stunden Schlaf machte sich Bruder Claudius zum nicht sehr weit entfernten Kapuzinerkloster am Neuen Markt auf. Es nieselte leicht. In der angegliederten Kirche traf er auf einen der Kapuziner, machte sich mit ihm bekannt und bat, den Prior des Klosters sprechen zu dürfen.
Der Mönch führte Claudius in die Räume des eigentlichen Klosters. Dort musste er sich ein wenig gedulden, dann trat ein fast zwei Meter großer, beleibter Mann in den Raum, dessen langer, grauer Vollbart ein wenig an Rasputin erinnerte. Im Gegensatz zu diesem funkelten hier jedoch gütige, verschmitzte Augen hinter der großen Brille hervor.
Der Kapuziner stellte sich als Klostervorsteher Bruder Laurentius vor, begrüßte Claudius herzlich und bat ihn zu einem Glas Wein in seine Räume.
Claudius nahm ein Wasser und war schon bald ins Gespräch mit dem Prior, der ein gemütlicher Mensch war und es nicht allzu eilig zu haben schien, vertieft. Irgendwann kamen sie auf die Raben zu sprechen.
»Und damit wären wir beim eigentlichen Grund meines Hierseins«, sagte Bruder Claudius. »Ich möchte dich nämlich um Hilfe bitten. Es besteht der dringende Verdacht, dass diese seltsame Rabeninvasion etwas mit dämonischen Umtrieben zu tun hat.«
Das Gesicht von Bruder Laurentius verdüsterte sich. »Wie kommst du darauf?«
Claudius beschloss, dem Prior reinen Wein einzuschenken. Er erzählte ihm in kurzen Worten von seiner eigenen Bestimmung, von Svantevit und den beiden französischen Dämonenjägern. Der Klostervorsteher staunte nicht schlecht.
»Du zweifelst nicht an meiner Geschichte, Bruder?«
»Warum sollte ich? Ich selbst habe bereits drei Teufelsaustreibungen hinter mich gebracht und dabei furchtbare Dinge erlebt. Ich stand dem Bösen von Angesicht zu Angesicht gegenüber und weiß, dass es real existiert. Deswegen habt ihr Brüder des Geheimen Ordens meine ganze Bewunderung für eure heldenhafte
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