0869 - Leichengift
wieder alles abgeschlossen, war entweder gefahren oder hockte in irgendeinem Seitentrakt.
Was tun?
Er nahm die Maske ab, als könnte ihm so etwas helfen, über die Schwierigkeiten hinwegzukommen.
Dann lächelte er plötzlich.
Er schaute gegen kein Regal, sondern mitten ins Leere, und er sah plötzlich, daß sich aus dieser Leere hervor ein Bild entwickelte. Eine Szene, die sich aus zahlreichen einzelnen Teilen zusammensetzte. Zuerst noch verschwommen, sehr statisch, dann immer deutlicher hervortretend, begleitet von heißen Sonnenstrahlen, die ihre blendende Fülle auf den Eingangsbereich des Supermarkts schickte.
Da war es mit der Ruhe vorbei.
Menschen waren gekommen, hatten ihre Wagen geparkt und waren ausgestiegen.
Sie gingen zum Geschäft, wollten einkaufen. Sie hatten Hunger, sie mußten dieses primitive Bedürfnis befriedigen.
Hunger hatte auch er.
Jim Little bewegte seinen Mund. Er produzierte schmatzende Geräusche. Er dachte an die Kunden.
Er haßte sie für ihr normales Aussehen.
Ja, er würde bleiben…
***
Rico Valdez hatte im Laufe der Jahre schlohweißes Haar bekommen, doch seine Haut war noch so dunkelbraun wie seit seiner Kindheit, die er auf Haiti verbracht hatte. Er war im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern, nach London gekommen, er war auch eingebürgert worden, aber er fühlte sich beileibe nicht als Engländer, sondern noch immer als Caribian.
Die Verbindungen zu seiner Heimat hatte er nie abgebrochen. Auch hatte er in London zahlreiche Kontakte zu anderen Menschen aus Lateinamerika.
Auf Haiti waren Ricos Eltern arm gewesen. Er hatte es erlebt, später hatte sich das Schicksal kaum gebessert, denn auch in London hatten sie keine Reichtümer scheffeln können, aber daraus hatte Rico gelernt, und er war seinen Eltern dankbar, daß sie ihn auf eine Schule geschickt hatten, wo er zudem das Glück gehabt hatte, auf eine Lehrerin zu treffen, die seine Begabung erkannt hatte.
Valdez hatte die Schule problemlos hinter sich gebracht und sich anschließend um eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich gekümmert. Auch die war gut verlaufen, und Valdez hatte sich dann in einigen Sparten mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg versucht.
Er war schon über dreißig gewesen, als er die achtzehnjährige Zita kennenlernte, eine Farbige aus Grenada. Ein herrliches Weib, jung und voll erblüht, und Zita hatte ebenfalls genau gewußt, was sie wollte.
Nur nicht in der Gosse enden.
Sie hatte Ehrgeiz bewiesen, ebenfalls gelernt, und was sie nicht wußte, das hatte ihr Rico beigebracht.
Beide bildeten ein Team.
Und sie heirateten.
Die Ehe hatte nur einen Nachteil. Sie blieb kinderlos, was allerdings nicht an Zita lag, sondern an Rico.
Seine Frau hatte ihm deswegen nie einen Vorwurf gemacht, und er war ihr deswegen dankbar.
Nach der Hochzeit hatten sie gemeinsam überlegt, wie sie ihr Leben gestalten konnten.
Beide waren Kaufleute, beide waren mit der alten Heimat noch verbunden, beide lebten zwischen den Caribeans, auch wenn sich ihre Wohnung von denen der meisten unterschied, und beide waren auch der Meinung, daß für die Landsleute zu wenig getan wurde. Daß man auf ihre Geschichte, auch ihre Bräuche und Rituale keine Rücksicht nahm. Das galt von der Geburt bis zur Beerdigung.
Beerdigung!
Ein Stichwort.
Damals war es wie ein Blitz in ihren Köpfen entflammt. Sie kannten die Probleme der Menschen, eine für sie würdige Beerdigung zu bekommen, die nicht so kalt und mechanisch ablief wie die Beerdigung der Briten. Da war genau die Lücke, in die das Ehepaar Valdez seine Hände hineindrückte.
Deshalb gründeten sie ein Bestattungsunternehmen, und so lief alles seinen Weg.
Die Valdez kannten die kaufmännischen Kniffe. Sie wußten etwas von Marketing und Werbung, und es sprach sich sehr bald herum, daß die Toten der Einwanderer bei Rico und Zita in guten Händen waren.
Das Geschäft florierte. Die beiden waren zufrieden, denn sie boten nicht nur simple Bestattungen an; sie vermischten die kirchlichen Rituale oft genug mit den alten Voodoo-Mythen, und genau darauf hatten ihre Landsleute gewartet.
Alles lief gut.
Man war zufrieden. Man lebte gut, man sparte, und man kümmerte sich auch um andere Dinge.
Es gab die normalen Beerdigungen, und es gab die außergewöhnlichen. Alles lief prima bis zu einem gewissen Tag.
Und bis zu einer gewissen Nacht, die für Rico Valdez voller Unruhe war. Er lag im Bett, er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er schwitzte Blut und Wasser, und
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