0869 - Leichengift
könnte.
Immer verstecken konnte und wollte er sich nicht. Dann fand er nie zu seinen Wurzeln zurück.
Was also tun?
Das Gesicht verbergen, es nur nicht an der Öffentlichkeit zeigen. Das genau war seine Chance, um sich relativ normal bewegen zu können. Er grinste wieder, als er diesen Gedankengang beendet hatte, denn er freute sich, daß er überhaupt so weit denken konnte.
Sein Gesicht durfte nicht gesehen werden, das war einfach so. Und er würde sofort dafür sorgen, daß sich dies änderte. Einen genauen Plan hatte er noch nicht, aber Jim Little wußte, daß er den letzten Rest der Dunkelheit ausnutzen mußte.
Ihn irritierte das Licht der Scheinwerfer, das von einem fahrenden Wagen hergeschoben wurde.
Sofort tauchte er an der Straße abgewandten Seite der Plakatsäule unter.
Der Wagen rollte vorbei. Niemand hatte ihn gesehen, und er blieb auch nicht länger in Deckung der Säule stehen. Mit langen Schritten überquerte er die Straße. Bei jeder Bewegung hüpfte er auf und ab, und die Kette an seinem Hals machte dieses Auf und Ab mit.
Sie war wichtig, das spürte er immer mehr. Nur nicht wegnehmen, dann war es vorbei.
Am Zaun blieb er stehen. Er bestand aus Maschendraht. Eine Laterne gab es nicht in der Nähe. Das Gelände hinter dem Zaun sah aus wie ein dichter Busch. Allerdings nur beim ersten Hinschauen.
Blickte man genauer auf dieses Gelände, so zeichneten sich schon die Umrisse kleinerer Bauten ab, mehr Hütten, wie sie eben bei Schrebergärten üblich waren.
Little kletterte den Zaun hoch. Er klammerte sich an der weichen Masse fest, die sich ihm entgegendrückte, wälzte sich dann über den Rand und fiel auf der anderen Seite zu Boden, wo er in einem hohen Grasteppich versank.
Obwohl der Aufprall hart gewesen war, spürte er keinerlei Schmerzen. Wichtig war einzig und allein die Kette. Sie durfte nicht zerstört werden, ihr konnte man nichts tun. Sie war ungemein wichtig, denn an ihr hing seine Existenz, das wurde immer deutlicher für Jim Little.
Er schwitzte nicht, er keuchte nicht, er war auch nicht erschöpft. Bei ihm lief das Leben weiter wie ferngesteuert, und Jim hatte sich damit abgefunden.
In seinem Gehirn bewegten sich die Gedanken. Er dachte daran, wie er aussah, und er stellte sich gleichzeitig die anderen Menschen vor, die anders aussahen als er.
Sie waren so normal, so glatt, und sie hatten auch Gefühle.
Er nicht, denn er wußte nicht mal, wo er herkam und sein eigentliches Zuhause lag.
Little war frustriert, sauer, wütend. Alles zusammen erzeugte bei ihm einen irren Haß auf die normal aussehenden Menschen. Wenn ihm jetzt einer dieser normalen Personen begegnet wäre, er hätte - egal, ob Mann, Frau oder Kind - getötet.
Es war ihm unerträglich, daß nur er so aussah, und seine Wut steigerte sich noch mehr. Er irrte und kämpfte sich durch das Gelände. Er schlug mit der Faust gegen die Stämme der Obstbäume, er brach Zweige und Äste ab, er keuchte und knurrte, er zertrampelte Beete, und als er in die Nähe eines Hauses geriet, da rammte er seine Faust in die Scheibe eines kleinen Fensters. Er sah die Scheibe splittern, und hörte es auch.
Scherben steckten in seiner Hand, als er sie zurückzog, und er zupfte sie heraus.
Kein Blut rann aus den Wunden.
Nicht ein Tropfen perlte.
Es gab kein Blut in ihm.
Er war leer, er war ausgetrocknet. Auch das unterschied ihn von anderen Menschen.
Einige Schritte entfernte er sich von dem kleinen Gartenhaus, blieb dann stehen und tastete seinen Körper ab. Er drückte mit den Händen gegen ihn, er ging ihn ab von unten nach oben, und er stellte fest, daß die Haut sehr dünn war und er sie eindrücken konnte.
Jim Little war irritiert.
Da gab es nur an vereinzelten Stellen Widerstand, aber dort, wo sich der Magen und andere Innereien hätten befinden müssen, war nichts mehr vorhanden.
Little knurrte. Mit diesem Problem kam er nicht zurecht. Da war etwas mit ihm passiert, über das er sich nicht so leicht hinwegsetzten konnte. Um so wichtiger war es für ihn, den richtigen Weg zu finden, der ihm das Tor zu seiner eigenen Vergangenheit öffnete.
Wenn er darüber Bescheid wußte, würde er sich auch mit seiner Existenz abfinden.
Er ging weiter. Weite Schritte, stampfend und das abstrahlend, was in ihm steckte.
Jim Little würde und wollte nicht aufgeben.
Er durchquerte das Gelände. Kein Mensch begegnete ihm, aber die Häuser, die er von der Straße her nur schattenhaft gesehen hätte, nahmen allmählich dichtere Formen
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