0873 - Gabentisch des Grauens
konzentrieren müssen, um herauszufinden, daß es alte Choräle waren, die da gesungen wurden. Aber wo? Nicht weit von ihm entfernt, sonst hätte er sie nicht gehört. Aber Johnny wußte zugleich, daß er es so leicht nicht schaffen würde, die Quelle dieser Musik zu erreichen.
Er mußte sie aus seinem Kopf verdrängen und sich um die eigenen Probleme kümmern. Das würde ihm kaum gelingen, wenn er auf dem feuchten Boden liegenblieb und nichts tat. So sorgte Johnny dafür, daß er sich mit beiden Händen abstemmte und dann allmählich in die Höhe drückte, um eine sitzende Haltung einzunehmen.
Es klappte besser, als er es sich gedacht hatte. Er saß da, der Druck im Hinterkopf hatte nicht zugenommen, und Johnny tastete zum erstenmal nach dieser Stelle, wo man ihn erwischt hatte.
Dort war die Haut leicht eingerissen, und er fühlte auch, wie sich eine Beule bildete.
Mehr war nicht geschehen. Das ließ sich leicht ertragen. Noch saß er und dachte nach.
In einer stickigen Dunkelheit wie dieser konnte ihm nur das Licht helfen. Johnny tastete die Taschen seiner Jeans ab. In der rechten hinteren steckte die flache Geldbörse, die brauchte er nicht. Auch nicht den kleinen Kamm und den Kugelschreiber in der anderen Gesäßtasche.
Vorn rechts in der Tasche befand sich das Taschentuch. In der linken ertastete Johnny sein schmales Taschenmesser und auch das Feuerzeug. Er ließ beides stecken und sorgte dafür, daß er normal auf die Beine kam. Mit wackligen Knien blieb er stehen. Obwohl er aufgepaßt hatte, konnte er dem Schwindel nicht entwischen. Er hielt ihn für einen Moment in seinen Klauen und ließ ihn schwanken.
Johnny saugte die Luft ein. Nun erst kam ihm der faulige und feuchte Schimmelgeruch zu Bewußtsein. Aber noch etwas anderes befand sich dazwischen. Auf seiner Zunge lag plötzlich ein bitterer Geschmack.
Johnny spie aus.
Der Geschmack blieb. Er konnte nichts daran ändern und nahm ihn hin. Nun holte er das schmale Feuerzeug hervor. Auch als Nichtraucher soll man es immer bei sich tragen, dachte er. Sein Daumen drehte das Rädchen, und eine Flamme entstand.
Kein Luftzug erwischte sie, deshalb brannte sie auch ruhig weiter. Erst als sich Johnny mit dem Feuerzeug in der Hand in Bewegung setzte und dabei einfach losging - eine bestimmte Richtung kannte er nicht -, geriet die Flamme in leichte Bewegungen. Sie tanzte.
Er hatte etwas gesehen.
Noch war er zu weit entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können. Für ihn war das Entdeckte nicht mehr als ein breites, tischhohes Hindernis inmitten seines Gefängnisses.
Johnny wartete. Er löschte die Flamme, da sie zu nahe an seinen Daumen herangekommen war.
Wieder stand er im Finstern.
Darüber nachdenken und überlegen, was dieses Hindernis im Verlies wohl hätte sein können.
Ein Tisch?
Ja, das war durchaus möglich. Es hatte tatsächlich ausgesehen wie ein Tisch.
In seinem Hirn sirrte etwas. Es war wie ein schrilles Geräusch, ein gellender Schrei, als wäre ein Nervenstrang zu einer Gitarrensaite geworden, an der jemand gezerrt hatte.
Johnny erinnerte sich an Martys Worte. Sein Freund hatte vom Gabentisch des Grauens gesprochen oder so ähnlich, und dieser Umriß hatte einem Tisch geähnelt.
Für Johnny gab es keinen Zweifel, und gleichzeitig drängte sich die Neugierde noch höher. Er war eben ein Produkt seiner Eltern. Auch Bill, sein Vater, gehörte zu den neugierigen Menschen, sonst hätte er den Beruf des Reporters nicht ergreifen können.
Wieder trat das Feuerzeug in Aktion. Diesmal allerdings war Johnny zwei Schritte auf sein Ziel zugegangen. Als die Flamme brannte, sah er, daß sich dieser Weg gelohnt hatte.
Vor ihm stand der Gabentisch des Grauens. Johnny hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken, denn eine derartig makabre Performance hatte er noch nicht gesehen…
***
Zuerst dachte er, daß es einrotes Tuch war, das da auf dem Tisch lag, aber ein Tuch zog keine dicken Fäden, und von denen lösten sich auch keine Tropfen, die auf den Steinboden pitschten und dort verliefen.
Das war kein Tuch, das war Blut!
Johnny schloß für einen Moment die Augen. Er hoffte, daß es kein Menschenblut war, und er ging noch näher an den makabren Ort heran.
Ein altes Kreuz sah er auch. Es stand umgekehrt auf dieser Steinplatte, und hinter ihm breitete sich eine gelbliche Papierrolle aus, deren Ränder noch eingerollt waren. Johnny sah einen Totenschädel auf der Platte stehen und auch eine Schale, in die er einen Blick warf und feststellen
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