0873 - Gabentisch des Grauens
Bill, aber ich möchte doch, daß Sie sich von meinem Sohn und damit auch von uns fernhalten. Ich weiß, daß Sie eine Spürnase für unerklärliche Phänomene besitzen. Das ist okay, solange Sie uns damit in Ruhe und Frieden leben lassen. Was Sie als Fakten bringen, das sind für mich Einbildungen. Seien Sie froh, daß sich mein Mann auf einer Dienstreise befindet, er hätte Sie bestimmt verklagt.«
»Ich hätte ihn nicht daran hindern können, Susan. Doch Sie können mich ebensowenig daran hindern, das zu glauben, was ich gesehen habe. Hier läuft etwas ab, das mir überhaupt nicht gefällt. Noch befinde ich mich an der Oberfläche, aber ich sage Ihnen gleich, daß ich auch tauchen werde, um das Gewässer zu erhellen.«
Susan schaute ihn kühl an. »Geben Sie dabei acht, Bill, daß Sie nicht ertrinken. Es wäre schade um Sie.«
»Keine Sorge, ich bin es gewohnt, auf mich aufzupassen.«
Auf dem Tisch lag ein Handy. Dieses schmale tragbare Telefon meldete sich »Pardon«, sagte die Frau und hob es an. Sie lauschte, und Bill konnte hören, daß Susan von einer Frau angerufen wurde.
»Ja«, sagte sie, »Ihr Mann ist hier.«
Sheila? dachte Bill. Er nahm das Gerät entgegen, das ihm Susan über den Tisch hinwegreichte.
»Was ist, Sheila?«
Er hörte ihr Weinen und gleichzeitig auch die Wut in ihrer Stimme. »Bill, sie haben Johnny entführt.«
Der Reporter erbleichte. »Wer?«
»Ich weiß es nicht. Es ist aber geschehen, denn ich bin angerufen worden. Eine neutral klingende Stimme erklärte mir, was mit Johnny passiert sei.«
Wie früher, dachte Bill, wie früher. Johnny war schon mal entführt worden, aber da hatte es noch eine Wölfin namens Nadine gegeben, die ihm zur Seite gestanden hatte.
Jetzt war sie nicht mehr da.
»Bill, hörst du noch?«
»Ja, Sheila.«
»Ich habe John schon informiert. Tu mir einen Gefallen und komme so schnell wie möglich rüber.«
»Ich bin gleich bei dir.« Bill legte den Apparat weg und schaute für eine Weile ins Leere.
»Schlechte Nachrichten?« hörte er Susan fragen. »Ihre Frau klang ziemlich aufgeregt.«
»In der Tat«, murmelte Bill, »schlechte Nachrichten.«
»Das tut mir leid.«
Bill schaute sie an. Er sah das glatte Gesicht der Frau, das Funkeln in den dunklen Augen, und er wußte plötzlich, daß sie gelogen hatte und es ihr nicht leid tat. Er ging sogar einen Schritt weiter und hatte das Gefühl, daß sie hinter allem steckte.
Er stand auf.
Auch Susan Stone erhob sich und lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Bill. Auf schlechte Nachrichten folgen immer wieder gute.«
»Meinen Sie?«
»Ich kenne mich aus.« Kühl lächelte sie Bill an, der zu gern gewußt hätte, was diese Person dachte.
Es war schade, daß er nicht länger bleiben konnte. Zum Abschied sagte er: »Ich denke, wir sehen uns noch.«
»Ja, das würde mich freuen.«
Bill verließ mit eiligen Schritten das Haus.
***
Johnny Conolly wartete darauf, daß dieses kalte Gefühl bei ihm verschwand, aber es wollte nicht weichen. Es blieb an seinem Körper kleben wie Leim, denn dieses Geräusch hatte er sich nicht eingebildet, auch wenn es jetzt verschwunden war und sich Johnny wieder auf die Musik konzentrierte. Es war diesmal nur Musik, kein Gesang. Der dumpfe und auch irgendwie drohende Klang einer Orgel erreichte ihn.
Johnny mußte sich anstrengen, um seine Gedanken bei sich zu halten. Es war alles ziemlich kompliziert geworden und gleichzeitig doch einfach. Er machte sich nichts vor. Er wußte ja, was bei seinen Kameraden auf der Schule in war. Viele liefen in die neuen Kirchen-Discos und verloren sich dort in wilder Ekstase. In einem pseudoreligiösen Wahn, der sie in einen Zustand versetzte, für den Johnny kein Verständnis aufbrachte. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß diese Welle von den Staaten her nach Europa rübergeschwappt war.
Johnny hatte sich nichts daraus gemacht, aber sich informiert und war zu dem Entschluß gelangt, daß die Besucher der Kirchen-Discos harmlose Zeitgenossen waren, die wieder eine Marktlücke entdeckt hatten. Sie waren keine Grufties und keine jungen Menschen, die ihrer Todessehnsucht nachkamen, sie hingen irgendwo dazwischen.
Mit dem Satan oder dem Bösen hatten sie nichts am Hut. Sie akzeptierten ihn als Gegenpol, aber sie dienten ihm nicht in seinem Sinne.
Bis jetzt hatte Johnny daran geglaubt.
Nun war alles anders geworden.
Allein der Anblick dieses makabren Gabentischs hatte ihn verstört. Hinzu war das Geräusch gekommen. So anders,
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