0874 - Das Tier
Unruhe steckte in uns. Wir wollten noch warten, obwohl es uns drängte, zum Haus der Stones zu fahren und dort einiges wieder richtigzurücken.
Aber wir blieben am Eßtisch sitzen. Tranken den Kaffee, ich rauchte, und auch Bill qualmte.
Sheila war am unruhigsten von uns. Immer wieder stand sie auf. Manchmal ging sie zur Toilette, dann wieder wanderte sie in den Wohnraum, der durch eine offene Tür mit dem Eßzimmer verbunden war.
Als sie uns das vierte oder fünfte Mal verlassen hatte, hörten wir ihren leisen Schrei.
Blitzschnell jagten wir hoch und hatten ebenso schnell den anderen Raum betreten.
Sheila stand am Fenster, die Stirn hatte sie gegen die Scheibe gepreßt. Wir hörten sie sprechen und schluchzen zugleich.
Bill ging zu seiner Frau und zog sie zurück. »Was hast du, Sheila, was ist passiert?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Rede doch!«
Sheila fing sich langsam. Ihre Augen waren verweint, als sie in die Runde schaute. »Johnny«, flüsterte sie. »Ich… ich… habe es gemerkt. Es passiert etwas mit ihm. Ich konnte es deutlich spüren.«
»Was passierte?«
»Ich weiß nicht, Bill. Irgendwas. Er ist so allein. Er hat Angst, da gab es plötzlich eine Verbindung zwischen uns…«
Wir hörten zu und standen dabei wie auf heißen Kohlen, aber wir ließen Bill den Vortritt. »Hast du eine Vision gehabt? Spiegelte etwas in deine Gedanken hinein? Konntest du sehen?«
»Nein, das nicht.«
»Aber…?«
»Ich weiß es nicht, Bill!« stöhnte Sheila. »Ich kann es nicht erklären. Es war einfach da. Ich hatte Kontakt. Ich spürte, wie sehr Johnny gelitten hat…«
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»Dann müssen wir fahren.«
Sheila nickte.
Bill wandte sich an uns. »Sollen wir?«
Auch Suko und ich waren dafür. Allerdings gingen wir ein Risiko ein, denn wir wußten nicht, wo sich Johnny aufhielt. Daß er bei den Stones war, konnten wir nur vermuten.
»Nein, nicht fahren! Noch nicht!« sagte Sheila stotternd. »Mein Gott, da ist etwas!«
»Und was?«
»Jemand ist da. Ich… wir…« Sie verstummte. Sie holte Luft, dann sagte sie ein Wort, das uns alle erschreckte…
***
Johnny merkte, daß er auf der Kippe stand. Seine Psyche balancierte auf einem schmalen Grat, und er brauchte nur den letzten Kick zu bekommen, um nach der falschen Seite hin abzustürzen. Und dieser Kick würde ihn in den nächsten Augenblicken erwischen.
Er kam!
Etwas jagte in Johnnys Kopf. Es war etwas anderes, nicht die Gedanken des Wesens, nichts Dämonisches, aber Johnny kam damit nicht zurecht, bis plötzlich ein Bild, eine Vision, erschien.
Es war das Gesicht einer wunderschönen Frau. Fein geschnitten, mit einem vollen Mund und großen Augen, wobei es trotzdem nicht kompakt, sondern ätherisch aussah. Aus einer anderen Welt oder Dimension war es ihm erschienen, und Johnny kannte dieses Gesicht. Er hätte bei seinem Anblick jubeln und vor Freude schreien können, aber er hielt sich zurück, obwohl er wußte, daß er der Retter in höchster Not war.
Nadine Berger!
Sie war als Geist, als körperlose Vision aufgetaucht. Sie hatte über Dimensionengrenzen hinweg von seinen Qualen erfahren, und sie mußte sich einfach daran erinnert haben, wie es früher einmal gewesen war, als sie, die Wölfin mit der menschlichen Seele, den kleinen Johnny jahrelang beschützt hatte.
Sie war dann wieder zu einem Menschen geworden, hatte aber ihre Heimat nicht mehr auf dieser Welt gefunden, sondern auf der geheimnisvollen Insel Avalon.
Dort lagen die neuen Aufgaben für sie, und sie hatte auch allein bleiben sollen.
Diesmal ging es um Johnny.
Über alle Hindernisse hinweg hatte sie von seiner Not erfahren. Gedankenströme der Angst waren zu ihr gelangt, und sie hatte es geschafft, den Bann zu durchbrechen.
Johnny sprach mit einer anderen Stimme.
Aber sie gehörte nicht dem Tier, sondern Nadine Berger. »Ich verfluche dich, du Bestie…!«
***
»Nadine Berger!«
Sheila hatte den Namen geschrieen und zugleich geflüstert. Es war verrückt, aber so hatte es sich angehört. Und sie wankte dabei wie eine Betrunkene durch den Raum.
Ich hatte am schnellsten reagiert, stützte sie ab und spürte sie so stark zittern, als wären Stromstöße dabei, durch ihren Körper zu jagen und sie zu quälen.
Sie wiederholte den Namen, während ich sie in einen Sessel drückte. Plötzlich standen auch Bill und Suko um sie herum. Wir betrachteten ihr bleiches Gesicht mit den starren Augen. Es lag ein ungläubiges Staunen darin, aber keine Angst mehr um ihren Sohn.
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