0886 - Der U-Bahn-Schreck
als ein Gleis hier gibt.«
»Ja, ja, das weiß ich. Aber Maria könnte uns vielleicht helfen, wenn wir sie mitnehmen.«
»Das ist eine gute Idee«, gab ich zu.
Auch die Wahrsagerin hatte mich gehört. »Ich soll mit euch gehen?« fragte sie.
Ich streckte ihr bereits eine Hand entgegen. »Bitte, Maria, tu uns den Gefallen. Wenn es stimmt, daß dieses Wesen mit Kindern zusammen ist, dann mußt du helfen, sie zu retten.«
»Nicht nur Kinder«, sagte sie.
»Was noch?«
»Jemand ist in ihrer Nähe. Eine Frau. Ich spüre den anderen Einfluß, aber diese Frau ist nicht stark genug, um gegen die lebende Tote anzukommen. Noch sind die Kinder nicht in Gefahr, noch nicht. Und sie haben auch nichts gemerkt.«
»Aber sie könnten in Lebensgefahr geraten.«
»Das stimmt.«
»Dann hilf uns bitte.«
Über meinen noch immer ausgestreckten Arm hinweg schaute mich die Wahrsagerin an. »Ja, ich werde dir helfen. Ich werde euch helfen, weil ihr es verdient und ich nicht will, daß Kinder sterben, obwohl es auch Kinder waren, die mich hier in eurem Land ausgelacht und manchmal sogar getreten und mit Steinen beworfen haben…«
Das waren Augenblicke, in denen man sich schämte, Mitglied eines sogenannten Kulturvolks zu sein. Ich konnte meine Landsleute nicht verteidigen, ich konnte mich höchstens entschuldigen, aber Maria stoppte mich schon im Ansatz.
»Nein, lieber nicht. Ich weiß ja, daß nicht alle Menschen bei euch so denken. Aber war die Hölle hinter sich hat, der hat es nicht verdient, wieder in eine andere Hölle zu geraten.« Sie umklammerte mein Gelenk über der Hand, und ich wunderte mich darüber, mit welch einem kraftvollen Schwung sie auf die Beine kam.
Wir standen uns gegenüber. Sie war kleiner als ich und mußte die Augen anheben, um mir ins Gesicht blicken zu können. Ich sah ihr Lächeln, dann sagte sie: »Jetzt sollten wir aber gehen.«
»Und du kennst das Ziel?«
»Ja, zum Bahnsteig.«
»Auch das Gleis?«
»Noch nicht«, flüsterte sie und fügte noch etwas hinzu, das bei mir einen Schauer hinterließ. »Sie kommen, und sie kommen näher und näher…«
***
Sarah Goldwyn kannte die Person neben Sich noch nicht besonders gut, aber doch soweit, daß sie davon ausgehen konnte, keinen Bluff gehört zu haben. Diese Lucy Travers gehörte einer Kategorie von Geschöpfen an, die als lebende Tote traurige Berühmtheit erlangt hatten. Gefühle waren ihnen fremd. Sie töteten Kinder ebenso wie Erwachsene, das wußte Lady Sarah, und sie wußte auch, daß sie sich fügen mußte. So selbständig dieses Wesen nah war, es brauchte trotzdem jemand, der es führte.
Die Horror-Oma verfügte nicht nur über ein immenses Wissen, sie war auch mit starken Nerven ausgerüstet. Möglicherweise eine Sache des Alters, denn sie sagte sich, daß ihr Leben hinter ihr lag. Deshalb blieb sie auch ruhig.
»Du hast es gehört?«
»Ja.«
In den starren Augen der Person bewegte sich nichts. Leider hielt sie Sarah noch immer fest, und der Schmerz hatte sich ausgebreitet, was der Frau nicht gefiel. »Ich werde dir nicht weglaufen«, sagte sie. »Wir bleiben zusammen, aber bitte, wenn du mich loslassen könntest, wäre das schon gut. Du hast einen sehr harten Griff, und ich bin eine alte, schwache Frau…«
Lucy Travers lächelte. Es war bösartig und irgendwo auch grausam.
»Nein, du bist nicht schwach. Ich weiß es besser. Du weißt auch, wer ich bin, aber du hast nicht geschrien und dich beherrscht.«
»Trotzdem kannst du mich loslassen.«
Lucy überlegte. Plötzlich fühlte sich Lady Sarah befreit. Keine kalten Zombie-Finger umklammerten mehr ihre Hand. Sie konnte sich wieder normal bewegen, aber die Kälte blieb noch, als wäre ihr Blut eisiger geworden. Die Finger lagen noch zusammengedrückt, und sie versuchte, die Hand erst einmal zu bewegen.
Es klappte. Allmählich verschwand auch der Schmerz, zudem ging die Taubheit zurück.
Sie schloß für einen Moment die Augen. Urplötzlich hatte sie dieser Schwindel gepackt. Erst jetzt kam ihr zu Bewußtsein, wie tief sie bereits in der Tinte steckte. Auch Lady Sarah war ein Mensch, und sie mußte das Erlebte erst mal verdauen. Es war so etwas wie eine Schockreaktion, die sie überfallen hatte.
Mehr im Unterbewußtsein stellte sie fest, daß der Zug langsamer geworden war. Er lief in die nächste Station ein. Sarah, die ihre Augen fast geschlossen hatte, öffnete sie wieder, um nach vorn zu blicken. Die Kinder saßen noch auf ihren Plätzen oder standen im Gang. Keines von
Weitere Kostenlose Bücher