0895 - Schattenkiller
Tür stehen. Sie nahm auf dem harten Bett Platz, sah gegenüber das Waschbecken, daneben den Schemel, den kleinen Tisch und das Regal, in dem noch einige Bücher und zwei helle Tassen standen. Mehr hatte sie nicht mitgenommen, einen Schrank gab es nicht. Die Tracht wurde ihr gebracht, ebenso die kratzige Unterwäsche. Beides hatte sie auf der Flucht weggeworfen.
Vor der Tür waren die Geräusche verstummt. Sie hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt und herumgedreht wurde. Wie immer konnte die Tür nicht lautlos geöffnet werden. Die Angeln ächzten, zusätzlich schabte die Tür noch über den Boden hinweg, dann aber war sie so weit offen, um die beiden Frauen eintreten zu lassen, die der auf dem Bett sitzenden Lucille wie Wächterinnen des Todes vorkamen.
Ihre Kleidung war dunkel, erinnerte an hochgeschlossene Gewänder, aus denen nur die Hälse und die Gesichter hervorschauten. Gesichter von Menschen, doch Lucille konnte sich sehr gut vorstellen, daß diese sich in Teufelsfratzen verwandelten und lange, spitze Zungen aus den Mündern hervorschnellten.
Die Tür ließen sie offen. Langsam kamen sie näher und blickten auf Lucille, als sie neben ihr stehenblieben.
Kalte, blasse Augen. Eine Gesichtshaut, in die ein scharfes Faltenmuster eingezeichnet worden war.
Augenbrauen, die sich nicht bewegten, Lippen, die zusammengekniffen waren und die Boshaftigkeit der Gesichter noch verstärkten.
Lucille saß schweigend auf der Bettkante und versuchte mit aller Macht, ihrer Angst Herr zu werden. Sie wollte auf keinen Fall diesen beiden Weibern einen Triumph gönnen, aber ob es ihr tatsächlich gelang, die kalte Furcht zu unterdrücken, war fraglich.
Sie blickten sich um, als sähen sie die Zelle hier zum erstenmal. Dann fing eine an zu sprechen. Sie redete mit dünner, aber auch kalter Stimme. »Du hast unsere Gesetze gebrochen. Du bist geflohen, obwohl wir dir gesagt haben, daß dies nicht möglich ist. Wer sich einmal für uns entschieden hat, der muß bleiben. Das gilt auch für dich, Lucille. Und wir haben dir schon zuvor erklärt, daß es unmöglich ist, uns zu entkommen. Du hast fliehen können, das stimmt, aber wir haben es immer geschafft, unsere Schwestern zurückzuholen. Auch du bist zu uns gekommen. Und jetzt wirst du bleiben, und zwar für immer.«
Für immer! Für immer! Durch Lucilles Kopf strömten die letzten beiden Worte. Sie ließen sich nicht stoppen, sie verstärkten sich sogar und wurden zu regelrechten Hammerschlägen, ähnlich wie die böse Botschaft in ihren Alpträumen.
Da war ihr die Botschaft von einem Kerker übermittelt worden. Aber welcher Kerker war damit gemeint? Ihre Zelle? Möglich, denn sie kam ihr ebenfalls vor wie ein Kerker. Daran wollte sie nicht glauben, es gab sicherlich andere Kerker, die tief verborgen unter den offiziellen Räumen des Klosters lagen.
Im Keller, in den Gewölben…
Sie hatte mal davon gehört, wie sich zwei Schwestern darüber unterhielten, aber sie wußte nicht, ob sie von einer leeren Drohung gesprochen hatten.
Ihr Herz klopfte wieder stärker. Es lag auch an den Blicken der beiden Frauen, die so gnadenlos waren. Ohne Gefühl, einfach nur kalt und abschätzend.
Die Sprecherin nickte. »Wir werden dich nicht hier in der Zelle lassen, Lucille. Du bist für etwas anderes vorgesehen. Wir werden dich jetzt mitnehmen.«
»Wohin denn?«
Beide »Nonnen« lächelten dünn. »Es soll für dich eine kleine Überraschung werden.«
»Ich will aber nicht hier weg!«
Das Lachen klang ähnlich, als wären Hände dabei, Glas zu zerbrechen. »Was du willst oder nicht, spielt für uns keine Rolle. Los, hoch mit dir!«
Lucille Anderre wußte, daß es keinen Sinn hatte, jetzt Widerstand zu leisten. Sie drückte sich von der Bettkante hoch, was den beiden Weibern nicht paßte. »Schneller!« sagte die zweite. Zugleich mit der anderen griff sie zu, und ihre Finger bohrten sich durch den Stoff des Pullovers in ihren Oberarm. Lucille unterdrückte einen Wehlaut, als die beiden Weiber sie hochrissen, auf die Beine stellten, wieder zupackten und sie drehten.
»Durch die Tür!«
Lucille setzte sich in Bewegung. Ihre Beine waren plötzlich schwer geworden, und sie nahm sich vor, nur nicht zu denken. Sich nur keine großen Gedanken über ihr Schicksal zu machen. Alles auf sich zukommen zu lassen, das war am besten.
Ihre Beine waren schwer. Sie bekam die Füße kaum in die Höhe, und deshalb schlurfte sie auch über den Steinboden. Sie fror nicht nur wegen der Kälte,
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