0895 - Schattenkiller
nur das Gesicht, nicht aber die Haare, denn über sie hatte sie eine Kapuze gestreift, die Ähnlichkeit mit den Schutenhüten aus der Biedermeierzeit aufwies.
Durch die Schwärze der Kleidung wirkte ihr Gesicht möglicherweise heller, als es tatsächlich war.
Die Haut wirkte alt und dokumentierte ein langes Leben.
Da der Schreibtisch sehr groß war, wirkte die Person dahinter recht schmal, sogar gebrechlich, doch ich hütete mich davor, sie zu unterschätzen.
Sie hatte auf uns gewartet, dieser Eindruck überkam mich, auch wenn sie selbst dazu nichts sagte. In diesem Raum war sie die Königin, hier hielt sie Hof und auch Wache.
Die Tür war geschlossen, es gab nur mehr die Frau, Marco Anderre und mich. Wobei ich merkte, daß Marco kaum noch in der Lage war, sich neben mir zu halten. Er war drauf und dran, sich auf die Frau zu stürzen und ihr an die Kehle zu gehen.
»Du mußt dich zusammenreißen, Marco. Tu nichts, was du anschließend bereust.«
»Am liebsten würde ich ihr den Hals umdrehen, verdammt!«
»Ruhig…«
Die Frau hatte Marcos Worte vernommen, und zum erstenmal seit unserem Eintritt sah ich eine Regung. Sie lächelte. Ein dünnes Zucken ihrer Mundwinkel, mehr war es nicht, aber ich faßte es als eine Warnung auf, denn ich glaubte nicht daran, daß sich diese Person auf der Verliererseite sah. Sie hatte immer gewonnen, und sie würde auch jetzt gewinnen, das stand für mich fest.
Ich ging noch einen Schritt vor, und Marco blieb zum Glück hinter mir. »Sie wissen, wer wir sind?« fragte ich.
Die Person nickte.
»Sie haben uns wegschicken wollen.«
»Ja.« Zum erstenmal hatte sie gesprochen. Die Stimme war auch nicht durch eine Sprechanlage verzerrt worden, trotzdem klang sie so, wie wir sie draußen am Tor gehört hatten. Kratzig, rauh, als hätte die Person Mühe gehabt, überhaupt ein Wort zu sagen. Ich fragte mich, wer sie war, was hinter ihr steckte, ob sie noch handelte und reagierte wie ein normaler Mensch. Oder ob ich hier jemand vor mir sitzen hatte, der sich in einer Zwischenstufe zwischen Mensch und Zombie befand.
»Sie wissen, weshalb wir hier sind.«
Ihre Augen bewegten sich. Sie schaute mich an, und wir erhielten auch eine Antwort. »Es gibt hier keine Lucille Anderre. Es gab sie, aber sie ist vergessen.«
»Für Sie vielleicht, nicht für mich und meinen Begleiter, der übrigens ihr Bruder ist.«
»Aha.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Sie floh«, gab die Frau zu.
»Und dann?«
»Nichts mehr.«
»Ihr habt sie nicht zurückgeholt?«
»Ihr?« wiederholte sie monoton. »Wieso ihr? Sehen Sie hier noch andere Frauen?«
»Nicht in diesem Raum.«
»Eben.«
»Aber sicherlich woanders. In den zahlreichen Zellen zum Beispiel. Es sind nicht wenige, und ich habe mich gefragt, welchem Orden diese Frauen angehören, die hier leben. In einem Bau leben, den sie als Kloster bezeichnen, der aber nichts klösterliches an sich hat, denn es fehlt einfach das Zeichen, auf das sich viele Klöster berufen, das Kreuz. Ich habe es nirgendwo entdecken können.«
Die namenlose Frau hatte das Gesicht verzogen, als ich das Kreuz überhaupt ansprach. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie nichts mehr damit zu tun haben. Dann bewegten sich ihre Finger. Sie rutschten über den Schreibtisch hinweg, und wenig später hatten sich die Hände zu Fäusten geschlossen. »Warum stellt ihr meine Geduld auf eine derartige Probe? Warum tut ihr das? Geht weg. Geht beide weg. Verschwindet, es ist meine letzte Warnung!«
»Wir werden gehen«, erwiderte ich und hörte hinter mir das heftige und ungeduldig klingende Atmen des Marco Anderre. »Aber wir werden nicht zu zweit, sondern zu dritt gehen, und diese dritte Person wird Lucille sein. Verstanden?«
»Ich habe es gehört.« Noch immer redete sie so unnatürlich monoton, als lief in ihrer Kehle ein Kassetten-Recorder, der nach jeder Frage eingeschaltet wurde.
»Wir werden Lucille holen.«
Die Frau am Schreibtisch schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ihr werdet sie nicht bekommen. Wie oft soll und muß ich das eigentlich noch sagen?«
»Wir…«
»Verdammte Scheiße! Ich mache dich fertig, du altes Miststück!« Marco hielt es nicht mehr aus.
Die Sorge um seine Schwester ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Sie brachte ihn beinahe um den Verstand, und ihn hielt auch nichts mehr auf seinem Platz.
Er rannte vor, wollte an mir vorbei und hatte es auch fast geschafft, als ich das gefährliche Knurren hörte, das in der Nähe des Schreibtisches
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