0896 - Das Psychonauten-Kind
Hotel von der Rückseite her. Innerlich steckte er voller Freude, denn der Drang nach dem Bett war für ihn zu einer Sucht geworden.
Es gab auch einen schmalen Durchschlupf, den nur wenige kannten.
Wenn er ihn hinter sich hatte, stand er bereits im Biergarten des kleinen Hotels.
Leise summend schritt Julio weiter. Er machte bereits die Umrisse des Hauses aus, als er plötzlich stehenblieb. Es war keine Mauer, vor der er gestoppt hatte, sondern ein knurrender und hechelnder Schatten, ein Riesenhund mit gefährlich funkelnden Augen, dessen offenes Maul so aussah, als wollte es den Mann jeden Augenblick als Beute verschlingen.
»Heilige Maria und Josef!« keuchte er. »Das darf nicht wahr sein.« Julio wollte zurückrennen, traute sich im Angesicht des Hundes jedoch nicht und blieb wie festgenagelt stehen.
Woher kam der Köter? Gehörte er zum Hotel? Bestimmt nicht. Vielleicht einem der Gäste? Oder war es ein wildernder Hund, der auch Menschen angriff? Julio hatte davon gehört, er kannte Geschichten, die man sich von Kampfhunden erzählte, und wenn er vor einem Tier sich fürchtete, dann vor einer derartigen Bestie.
Er wußte nicht, ob dieser Hund vor ihm ein Kampfhund war, gefährlich genug sah er jedenfalls aus, und seine Zähne schimmerten wie tödliche Messer. Julio tat auch weiterhin nichts, dafür bewegte sich der Hund, und er kam auf ihn zu.
Der Magen des Tramps zog sich zusammen. Jetzt ist es vorbei! schrie eine Stimme in ihm. Endgültig vorbei. Der zerfetzt dir die Kehle, und du kannst nichts tun.
Das tat der Hund nicht.
Er berührte den Mann.
Mit der Schnauze stieß er gegen Julios Bauch, als wollte er ihm ein Zeichen geben. Dann trat das Tier zurück, kam wieder vor, stieß Julio an, ging wieder zurück und war dabei, ihm etwas klarzumachen.
Der Tramp überlegte.
Nach dem dritten Versuch des Hundes wußte er Bescheid. »Okay, mein Freund, okay. Ich weiß, was du willst.« Er nickte. »Aber ich tue das nur, weil du es bist…«
Julio ging vor.
Einen Schritt, dann den zweiten, und er sah, daß der große Hund sehr zufrieden war. »Na ja, wir beide werden uns schon verstehen«, erklärte Julio, als er zusammen mit dem Tier durch den Garten schritt und auf die Rückseite des Hotels zuging.
Julio war noch immer davon überzeugt, daß ihm etwas gezeigt werden sollte, aber was? Auf was wollte ihn das Tier aufmerksam machen, das plötzlich schneller lief, an einer bestimmten Stelle stehenblieb und den Kopf senkte.
Da mußte sich das Ziel befinden!
Julio Gomez überlegte. Unter seinem grauen Stoppelbart spürte er die Gänsehaut. Er schluckte, er wischte an seinen Lippen entlang. Hinter den Büschen schimmerte Licht. Es fiel aus den Fenstern der Gaststube. Da es ziemlich trübe war, schienen nicht alle Lampen eingeschaltet worden zu sein.
Gomez überlegte, ob er Hilfe bei der Kellnerin holen sollte. Susan kannte sich besser aus, sie würde bestimmt kommen und…
Statt dessen kam der Hund.
Das gewaltige Tier tappte auf ihn zu, das Maul aufgerissen, und wieder fror der Tramp, als hätte man ihn in einen hohen Kübel mit Eis gesteckt. Eden bewegte seinen Kopf, lief wieder zurück, und abermals faßte sich Julio ein Herz. Diesmal blieb er stehen, als er das Ziel erreicht hatte.
Ein Eiszapfen durchfuhr ihn, als er den Jungen leblos am Boden liegen sah. Er sank auf die Knie.
Vor seinen Augen wallten Schleier, als er sah, daß es ein Kind war. Er schätzte es auf zehn bis zwölf Jahre, es war jedenfalls noch jung, und Julio fürchtete sich davor, neben einem Toten zu knien.
Er schaute sich um.
Nur der Hund befand sich in seiner unmittelbaren Nähe. Er hörte dessen Hecheln dicht an seinem Ohr. Einmal strich kurz die Zunge über seinen Nacken, als wollte sie dafür sorgen, daß er seinen Blick tiefer senkte, was er auch tat.
Julio sah das Gesicht, und er sah die Stirn, auf der sich sein Blick förmlich festfraß, denn was er dort entdeckte, hatte er noch nie bei einem Menschen gesehen.
Schwach, aber trotzdem unübersehbar zeichnete sich dort der Umriß eines Auges ab.
Ja, es war ein Auge, sogar die Pupille entdeckte er darin. Sie schimmerte farbig, auch wenn der Tramp die eigentlich Färbung nicht erkennen konnte.
Aber es war ein Auge.
Ein drittes Auge!
Julio Gomez war überfordert. Er wußte nicht, was er zu dieser Entdeckung sagen sollte. Er kam nicht mehr zurecht. Vor ihm lag ein junger Mensch, der nicht nur zwei Augen, sondern drei Augen hatte, auch wenn das dritte nur bei genauerem
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