09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)
der Höhle, wo ihn die bleichen dicken Wurzeln seines Wehrholzthrons wiegten wie eine Mutter ihr Kind. Vor ihm flammte eine Fackel auf.
»Sag uns, was du gesehen hast.« Aus einiger Entfernung sah Blatt beinahe aus wie ein Mädchen, nicht älter als Bran oder eine seiner Schwestern, doch aus der Nähe wirkte sie viel älter. Sie behauptete, schon zweihundert Jahre gelebt zu haben.
Brans Kehle war sehr trocken. Er schluckte. »Winterfell. Ich war zurück in Winterfell. Ich habe meinen Vater gesehen. Er ist nicht tot, er ist nicht tot, ich habe ihn gesehen, er ist wieder in Winterfell, er ist noch am Leben.«
»Nein«, sagte Blatt. »Er ist gestorben, Junge. Versuche nicht, ihn von den Toten zurückzurufen.«
»Ich habe ihn gesehen .« Bran spürte, wie sich raues Holz an seine eine Wange drückte. »Er hat Ice gereinigt.«
»Du hast gesehen, was du dir gewünscht hast. Dein Herz sehnt sich nach deinem Vater und deinem Zuhause, und das hast du gesehen.«
»Ein Mann muss zuerst wissen, wie er schauen kann, ehe er hoffen darf, etwas zu erkennen«, sagte Lord Brynden. »Es waren die Schatten vergangener Tage, die du gesehen hast, Bran. Du hast durch die Augen des Herzbaums in eurem Götterhain geschaut. Für einen Baum ist die Zeit anders als für einen Menschen. Sonne und Erde und Wasser, das sind die Dinge, die ein Wehrholzbaum versteht, nicht Tage und Jahre und Jahrhunderte. Für die Menschen ist die Zeit ein Fluss. Wir sind in ihrem Strom gefangen und treiben von der Vergangenheit in die Gegenwart, immer in die gleiche Richtung. Das Leben der Bäume ist anders. Sie wurzeln und wachsen und sterben am gleichen Ort, und dieser Fluss bewegt sie nicht. Die Eiche ist die Eichel, die Eichel ist die Eiche. Und der Wehrholzbaum … Tausend Menschenjahre sind nur ein Augenblick für einen Wehrholzbaum, und durch solche Portale können du und ich in die Vergangenheit schauen.«
»Aber«, wandte Bran ein, »er hat mich gehört .«
»Er hat ein Flüstern im Wind gehört, ein Rascheln in den Blättern. Du kannst nicht zu ihm sprechen, sosehr du es auch versuchst. Ich weiß es. Ich habe meine eigenen Geister, Bran. Einen Bruder, den ich liebte, einen Bruder, den ich hasste, eine Frau, die ich begehrte. Durch die Bäume sehe ich sie immer noch, aber keines meiner Worte ist je zu ihnen durchgedrungen. Die Vergangenheit bleibt die Vergangenheit. Wir können aus ihr lernen, doch wir können sie nicht ändern.«
»Werde ich meinen Vater wiedersehen?«
»Nachdem du gelernt hast, deine Gabe zu beherrschen, kannst du hinschauen, wohin du möchtest, und alles sehen, was die Bäume gesehen haben, sei es nun gestern gewesen oder letztes Jahr oder vor tausend Zeitaltern. Menschen leben eingesperrt in ihre ewige Gegenwart, zwischen dem Nebel der Erinnerung und dem Meer der Schatten, das alles ist, was wir von der Zukunft wissen. Manche Motten leben nur einen einzigen Tag, und doch muss ihnen diese kurze Spanne vorkommen wie uns die Jahre und Jahrzehnte. Eine Eiche wird vielleicht dreihundert Jahre alt, ein Rotholzbaum dreitausend. Ein Wehrholzbaum wird ewig leben, wenn man ihn in Frieden lässt. Für sie verstreichen die Jahreszeiten so schnell wie ein Flügelschlag der Motte, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins. Auch wird deine Sicht nicht auf euren Götterhain beschränkt sein. Die Sänger haben Augen in ihre Herzbäume geschnitzt, um sie aufzuwecken, und dies sind die ersten Augen, die ein neuer Grünseher zu benutzen lernt … Doch mit der Zeit wirst du weit über die Bäume hinaussehen.«
»Wann?«, wollte Bran wissen.
»In einem Jahr oder in drei oder in zehn. Das habe ich nicht gesehen. Es wird sich mit der Zeit einstellen, das verspreche ich dir. Doch jetzt bin ich müde, und die Bäume rufen mich. Morgen machen wir weiter.«
Hodor trug Bran zurück in seine Kammer und murmelte »Hodor«, während Blatt ihnen mit einer Fackel vorausging. Er hatte gehofft, Meera und Jojen wären da, damit er ihnen erzählen könnte, was er gesehen hatte, doch ihre gemütliche Nische im Fels war kalt und leer. Hodor legte Bran auf sein Bett, deckte ihn mit Fellen zu und machte ein Feuer für ihn. Tausend Augen, hundert Leiber, Weisheit, so tief wie die Wurzen uralter Bäume.
Er betrachtete die Flammen und beschloss, wach zu bleiben, bis Meera zurückkam. Jojen würde unglücklich sein, das wusste er, aber Meera würde sich für ihn freuen. Er erinnerte sich nicht daran, die Augen geschlossen zu haben.
… aber dann war er
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